Lieb's oder lass' es // NC-UHH #2Zum Zusammenhang von Emotion und Revolution
17 February 2022, by Marius Lovehard & Carl Cool
Warum Gefühle kein blinder Fleck linker Theorie und Praxis sein dürfen und im Vernunftbegriff mitgedacht werden sollten.
»Der junge Genosse sah ein, dass er das Gefühl über den Verstand gestellt hatte. Aber wir trösteten ihn und sagten ihm die Worte des Genossen Lenin: “Klug ist nicht der, der keine Fehler macht, sondern klug ist, der sie schnell zu verbessern versteht.”, berichten vier Agitatoren aus Bertolt Brechts “Die Maßnahme” (1930) über die Fehler eines jungen Genossen, der ihren Auftrag, in China zu agitieren, durch impulsives Handeln aus Mitleid in Gefahr gebracht hatte.
Der “junge Genosse” ist zum Zeitpunkt des Berichts bereits tot. Die vier Agitatoren müssen sich für seine Ermordung vor einem Parteigericht verantworten. War der Mord gerechtfertigt? “Die Maßnahme” - ein politisches Lehrstück - kreist um den unterstellten Widerspruch zwischen impulsiven Gefühlen und rational kalkulierendem Handeln im Klassenkampf. Der junge Genosse muss sterben, weil er sich im Verlauf der Mission mehrfach für die Gefühle, gegen den Plan, entscheidet und damit die Genossen und den Erfolg in Gefahr bringt. Es wird ein Widerspruch zwischen Verstand und Gefühl konstruiert. Doch existiert dieser tatsächlich? In welchem Verhältnis stehen Verstand und Gefühle und was bedeutet das für revolutionäre Kämpfe?1
Es ist tief im Denken der kapitalistischen Moderne verwurzelt, einen hierarchischen Dualismus von Verstand und Gefühl anzunehmen. Äquivalent dazu werden auch Kultur/Natur, Mann/Frau, Geist/Körper in ein binäres System gezwungen. Die Funktion dieser Ideologie ist die Rechtfertigung und Durchsetzung der Herrschaft und Kontrolle des einen über das andere, um die Bedingungen für die kapitalistische Verwertung herzustellen. Aus ökologischer, feministischer und antikapitalistischer Perspektive ist es deshalb nicht nur notwendig, diese Ideologie als falsche zu entlarven. Ihr muss ein überlegenes Verständnis von Gefühl und Vernunft entgegengesetzt werden, welches revolutionär durchzusetzen ist, indem die materiellen Gründe für die ideologische Spaltung abgeschafft werden. Für dieses neue Verständnis braucht es genauere Begriffe von Vernunft und Gefühl in dem beide wechselseitig als Teile des jeweils anderen auftauchen. Solche Begriffe existieren bislang kaum und wir erheben in diesem Text nicht den Anspruch sie zu liefern.2 Sinnvolle Ansätze für sie lassen sich aber etwa in der Neuropsychologie finden. Ergebnisse von Experimenten, bei denen mithilfe von MRT-Technologie die Gehirnaktivität in Entscheidungsprozessen untersucht wurde, widersprechen der Spaltung von Gefühl und Ratio.3 Es konnte nachgewiesen werden, dass rationale Entscheidungen durchaus von starken Emotionen begleitet sein können und andersherum Menschen vollkommen emotionslos, irrational denken können. Gefühle sollten dementsprechend nicht als Gegenteil der Vernunft gesehen werden und sie verunmöglichen sie schon gar nicht. Gefühle sind in der Vernunft immer enthalten. Auch sind Gefühle nicht rein triebhaft, sie können sogar dabei helfen, Situationen mit dem persönlichen Erfahrungshorizont abzugleichen und Entscheidungen hinsichtlich ihrer wahrscheinlichen Konsequenzen schnell in eine Richtung zu lenken. Dabei müssen und sollten Gefühle nicht unreflektiert handlungsleitend sein, wie im Fall von Brechts jungem Genossen. Die einzigartige Fähigkeit des menschlichen Bewusstseins sich selbst zu betrachten, um aktiv auf sich einwirken zu können, gilt auch für Gefühle. So können Gefühl und Verstand – ohnehin untrennbar verbunden – sich wechselseitig moderieren, sensibilisieren und immer weiter in Einklang gebracht werden. Der Gewinn für eine revolutionäre Politik könnte enorm sein. Lenin erkannte das in seiner Analyse der ersten spontanen Streiks und Arbeiter:innenrebellionen in Was tun?. Diese hätten die Notwendigkeit der kollektiven Abwehr gegen die unterdrückende Ordnung zwar noch nicht verstanden, jedoch schon empfunden. Das Fühlen ersetzt zwar keinesfalls das analytische und rationale Denken, aber informiert es ganz grundlegend. Umgekehrt ermöglicht ein affektives Verständnis der Notwendigkeit der revolutionären Politik es dem (revolutionären) Subjekt, sich abstrakte politische Theorie zu eigen zu machen, was eine notwendige Bedingung von dessen Handlungsfähigkeit ist.
Wenn also Gefühl und Verstand nicht getrennt betrachtet können werden, dann hat diese Erkenntnis auch Auswirkungen auf die Art und Weise wie Kommunist:innen Politik und Agitation zu betreiben haben. Dabei ist es wichtig anzuerkennen, dass das Fühlen der Menschen durch die jeweilige Gesellschaft ideologisch - zum Beispiel durch Erziehung – maßgeblich mitgeformt werden. Durch die widersprüchliche Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaft sind deshalb auch die Emotionen der Menschen gespalten. Einerseits werden sie vorgeblich zu Solidarität und Mitgefühl, also zur Gemeinschaftsfähigkeit, erzogen. Andererseits ist jedoch das Privatinteresse der Menschen im Kapitalismus ein konkurrenzförmiges Interesse zur Durchsetzung der eigenen gegen die der anderen. Gerade aus diesem Grund kann sich kommunistische Politik nicht unkritisch auf den Standpunkt des Privatinteresses und der Gefühle stellen, seine Notwendigkeit nicht aus ihnen erklären. Erst eine Moral, an der sich Gefühle und die Vernunft messen lassen können, ermöglicht kommunistische Politik, sonst wäre letztere ziellos. Die Philosophin Christine Zunke schreibt: “Dasjenige Interesse, das für die ganze Menschheit einen herrschaftsfreien Zustand fordert, ist dagegen nicht sinnlich, sondern aus reiner Vernunft praktisch begründet - und damit moralisch”. Da Emotionen aber an sich weder moralisch noch unmoralisch sind, ist ihre grundsätzliche Reflexion von Nöten und dieser Text nicht als Aufforderung zu verstehen, Gefühlen blind zu vertrauen und aus jeder emotionalen Regung direkt eine Handlung folgen zu lassen. Brecht kritisiert das unmittelbar von Mitleid motivierte Agieren des jungen Genossen zu Recht, und es ist nicht schwer sich vorzustellen, dass beispielsweise der Affekt der Angst in revolutionären Kämpfen nicht immer ein guter Berater sein kann. Man sollte also vielmehr sein emotionales System genau überprüfen und reflektieren, welche Gefühle in welchen Situationen zu produktiven Überlegungen und Handlungen führen. Welche Gefühle verweisen auf einen Gesellschaftszustand, in dem Vernunft und damit menschliche Freiheit verwirklicht wären? Revolutionäre Politik speist ihre Motivation also nicht aus reiner Zweck-Rationalität, sondern setzt Gefühle und Verstand produktiv ins Verhältnis. So könnten beispielsweise erfahrene Gefühle von Leid und Angst, aber auch Mitgefühl und Mitleid aufgegriffen, reflektiert und auf ihren vernünftigen Grund, der Forderung nach größtmöglicher Freiheit für alle Menschen, zurückgeführt werden. Eine revolutionäre Theorie muss die Gefühle der Menschen ernst nehmen, diese aufgreifen und die Gründe dafür analytisch ausfindig machen.
Doch Gefühle sollen nicht nur die Analyse und Kritik informieren. Auch die kommunistische Praxis darf sich nicht ignorant gegenüber den Gefühlen der Revolutionär:innen verhalten. Gefühle stellen einen maßgeblichen Teil von politischer Willensbildung dar und sind nicht von politischem Bewusstsein zu trennen. Kommunistische Politik kann und muss das aufgreifen, um erfolgreich sein zu können. Bini Adamczak schlägt vor, das Utopie- und Bilderverbot über Bord zu werfen und stattdessen durch das Ausformulieren von utopischen Ideen und der Entwicklung anderer Beziehungsweisen im Hier und Jetzt affektive Anknüpfungspunkte zu generieren, welche den Kommunismus tatsächlich begehrenswert machen. Denn der Verstand begreift zwar die Wirklichkeit und richtet sie ein, das reflektierte Gefühl informiert jedoch über die zu verändernden Zustände.
Und dennoch, betrachtet man unseren jungen Genossen aus Brechts Stück, stellt sich die Frage: In welchem Verhältnis stehen der Vorschein der besseren Gesellschaft, in der Menschen ihre Bedürfnisse und Gefühle nicht mehr einem feindlichen Zweck unterordnen müssen, und die Aufgaben revolutionärer Politik zueinander? Revolutionäre Politik ist immer mit dem Problem konfrontiert, das Brecht in der Maßnahme schildert: Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Progressivität der Wünsche und der Repressivität der Realität, in welcher die Revolution stattfinden soll. Kommunist:innen kämpfen für eine Welt frei von Ausbeutung und emotionaler Entfremdung. Eben weil diese Welt auch ein affektiver Wunsch ist, nicht nur eine aus einer sterilen Analyse heraus gewonnene Einsicht in die Notwendigkeit, besteht das Interesse, die progressiven Wünsche und Beziehungsweisen, die ersehnt werden, schon im Hier und Jetzt real werden zu lassen. Das hat seine Berechtigung, zumal die Revolutionär:innen die Revolution auch für sich selbst machen und politischer Kampf, wenn Mittel und Zweck nur technisch miteinander vermittelt sind, emotionslose, kalte Revolutionär:innen erzieht, mit denen im Kommunismus auch nicht mehr viel anzustellen ist. Eine revolutionäre Theorie und Praxis, die diese Aspekte des Zusammenhangs von Verstand und Gefühl nicht berücksichtigt, kann niemals ihr emanzipatorisches Potential ausschöpfen. Zudem brauchen wir sie, um die zwischenmenschlichen Beziehungen zu knüpfen, die im organisierten politischen Kampf zusammenhalten. Solidarität, Freundschaft und Liebe sind die affektive Basis der Kollektivität, die entstehen muss, um für eine Revolution zu mobilisieren. Ohne Mitgefühl, Enthusiasmus, Schmerz, Freude, Wut und dem kollektiven Umgang damit kann eine Massenbewegung gar nicht erst entstehen und praktisch werden. Das Ideal von emotionslos – bzw. genauer, ihre Emotionen negierend – agierenden Revolutionär:innen erscheint in diesem Licht dumm und gefährlich.
Andererseits – und das beschreibt Brecht in seinem Stück – diktiert die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem (vorläufigen) ideologischen Monopol und dem Gewaltmonopol den Revolutionär:innen die Szenerie, in der die Revolution stattfinden wird. Mit reinem Hedonismus, reinem Bezug auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, dem einseitigen Bezug auf die Realisierung der progressiven Wünsche also, wird die Revolution nicht zu machen sein. Denn die Revolution stellt die Revolutionär:innen vor notwendige Aufgaben und Forderungen, die diese annehmen müssen, wenn sie nicht nur für sich selbst ein gemütliches Leben im Hier und Jetzt ergaunern, sondern die ganze Gesellschaft grundlegend verändern wollen. Das ist die Repressivität der Realität. Das ist der Widerspruch, in dem Revolution einerseits konkrete Utopie und veränderte bessere Beziehungsweisen, andererseits entbehrungsreichen Kampf bedeutet. Dieser Widerspruch ist nicht aufzulösen. Er muss innerhalb der organisatorischen Zusammenhänge, in denen die Menschen agieren, sowie in Bezug auf die konkrete Situation, deren Möglichkeiten und Notwendigkeiten, immer neu verhandelt und austariert werden.
Emotionen dürfen kein blinder Fleck revolutionärer Theorie und Praxis sein. Doch stehen Gefühle nicht für das Gute, das gefördert werden soll, sondern sind widersprüchlich. Gerade in einer von Widersprüchen durchzogenen Gesellschaft. Gefühle müssen, um revolutionär nutzbar zu sein, der Reflexion unterzogen werden. Wie auch Brechts Stück Die Maßnahme, das nach seiner Uraufführung 1930 durch das Publikum reflektiert und kritisiert wurde – Brecht war dazu veranlasst, sein Werk stellenweise inhaltlich anzupassen. Auch die dargestellte Beziehung von Gefühlen und Verstand, deren Problematisierung den Ausgangspunkt unseres Textes darstellt, wurde Gegenstand seiner Korrektur. “Der junge Genosse sah ein, dass er das Gefühl vom Verstand getrennt hatte.” lautet nun die Anschuldigung an den jungen Agitatoren. In der überarbeiteten Version von 1931 werden Gefühl und Verstand also nicht mehr als hierarchisch und widersprüchlich, sondern als sich gegenseitig bedingend verstanden. Sie müssen ins Verhältnis gesetzt und nicht gegeneinander ausgespielt werden. Nur so kann das Anliegen des jungen Genossen – das auch unseres ist – realisiert werden.
[1] Verstand und Vernunft werden in diesem Text, wie nach unserer Lesart auch bei Brecht, synonym als Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen, sich selbst zu reflektieren und die Welt kritisch zu hinterfragen, verstanden. Emotionen verstehen wir als sowohl psychische als auch physische Bewegtheit, die unmittelbar die Stellung des Individuums zu seinem Erleben manifestiert
[2] In der Diskussion, deren vorläufiges Ergebnis dieser Text darstellt, fiel immer wieder die Schwierigkeit auf, mangels Alternativen, auf das Begriffspaar Gefühl und Vernunft angewiesen zu sein, wie wir es in dessen üblicher theoretischer Konzeption als binär und sich gegenseitig ausschließend kritisieren. Außerdem befinden sich in dem thematischen Feld, in dem der Text sich bewegt, viele Begriffe mit mannigfaltigen, sich oft ein- oder ausschließenden Bedeutungen, die das Denken und Sprechen zusätzlich erschweren. Der Text ist darum, auch wenn er stellenweise in agitatorisches Pathos verfällt, nicht als abgeschlossenes Positionspapier zu verstehen, sondern als Bitte nach gemeinsamer Diskussion, um zusammen schlauer zu werden.
[3] Verweise auf verschiedene Studien dazu finden sich in dem Text „Politik und Emotionalität – Aufhebung der Dichotomie von Gefühl und Vernunft“ von Farah Dustdar