Depression und Kapitalismus // NC-UHH #2Über Mark Fisher
16 February 2022, by Armin Mandelzweig
Der britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher schrieb zu Lebzeiten in vielen seiner Texte über Depressionen und psychische Krankheiten im heutigen Kapitalismus. Was ist von seinen Thesen zu halten?
„Now is not the time for a simple “Scooby-Doo Marxist” exercise of pulling the mask off the villain to reveal that, yes, indeed, it was capitalism that caused depression all along! [...] Of course capitalism is culpable—but how, exactly, does the social-economic sphere interface with the psychological, and what kind of deeper lessons might be drawn from the entire experience?“
Chuang Collective, Social Contagion. 2020 (zumindest so ähnlich)
Der Zusammenhang zwischen kapitalistischem Alltag – insbesondere Arbeit – und Depression wird oftmals proklamiert. Begründet wird er meist aber eher kurzschlüssig und oberflächlich, ohne sich beiden Phänomenen – Lohnarbeit und Depression – genauer zu widmen. „Arbeitsstress führt zu Depressionen“ – diese Aussage ist für sich stehend ein Allgemeinplatz, den man in großen Zeitungen lesen kann, welche kapitalismuskritischer Umtriebe gänzlich unverdächtig sind. Um politisch überzeugend zu sein, ist hingegen eine tiefer gehende Untersuchung angezeigt, die einen solchen Zusammenhang – sofern vorhanden – begründet darlegen kann.
Der vorliegende Artikel will sich an einer solchen Untersuchung versuchen. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit den Thesen eines Autors, welchem oft zugeschrieben wird, den Zusammenhang von kapitalistischer Arbeitswelt und Depression treffend beleuchtet zu haben: Dem antikapitalistischen Kulturwissenschaftler Mark Fisher. Der aus Großbritannien stammende Autor war unmittelbar selbst betroffen, er beging 2017 in Folge langjähriger Depressionen Selbstmord.
Was schreibt Fisher über den Zusammenhang von kapitalistischem Alltag und Depressionen? Hat er dabei einen brauchbaren Begriff der kapitalistischen Produktionsweise zur Grundlage?
Neoliberal, prekär – depressiv?
In diversen Texten plädiert Mark Fisher dafür, dass man sich den gesellschaftlichen Ursachen für die Normalität psychischer Krankheiten zuwenden müsse. Für Fisher ist es der Neoliberalismus, der auf verschiedenen Ebenen psychische Erkrankungen zu verantworten habe: Die Politik seit den 1980ern, in Großbritannien von Margret Thatcher und „New Labour“ exerziert, habe prekäre Arbeitsverhältnisse geschaffen, bei denen die Bezahlung stetig sinke und die Arbeitszeit steige, dies führe zu ständiger Angst, Depressionen, Selbstmorden, so betont er an verschiedenen Stellen.1
Hierzu ist zunächst zweierlei kritisch zu bemerken:
Erstens kürzen sich Fishers Statements an diesen Stellen auf Allgemeinplätze wie das eingangs zitierte „Arbeitsstress sorgt für Depressionen“ herunter. Er hält diesen Allgemeinplatz – und den damit behaupteten Zusammenhang – ohne weitere Ausführungen für selbstevident. Dass dies gerade nicht selbstredend ist, beweist sich schon dadurch, dass dieser Zusammenhang von einigen bestritten wird – etwa durch Thesen, dass hirnchemische Vorgänge für Depressionen verantwortlich seien (zur Kritik daran später). Wie genau soll das eine (Arbeitsverhältnisse) zum anderen (Depressionen) führen? Das bedarf genauerer Ausführungen.
Außerdem muss man anmerken, dass Thesen wie „Arbeitsstress/prekäre Arbeitsverhältnisse führen zu Depressionen“ gar nicht auf das antikapitalistische Resultat hinauslaufen, auf das Fisher hinauswill. Wie schon erwähnt, lassen sich solche Thesen auch in großen bürgerlichen Zeitungen, ja sogar in Business- und Karrieremagazinen finden, natürlich ohne jede antikapitalistische Stoßrichtung. Es ist bei der Abstraktheit solcher Thesen kein Wunder, dass sie auch so (also völlig anders als von Fisher intendiert) Verwendung finden können: Wieso soll sich ein so allgemeiner Zusammenhang nicht durch eine Gesprächstherapie, vielleicht kombiniert mit Yoga und Sport aufheben lassen? Oder durch ein verändertes Verhältnis zur eigenen Arbeit, indem man „Probleme eher als Herausforderungen sieht“, wie eine Business-Website zynischerweise empfiehlt?2 Neben einer Vielzahl von Stellen, wo Fisher offenbar glaubt, mit derartigen Allgemeinplätzen einen kapitalismuskritischen Punkt zu landen, liefert er anderswo Begründungen zum Zusammenhang von Arbeit und Depressionen, dazu später.
Zunächst ist noch etwas Zweites zu Fishers Ausführungen anzumerken: Wieso soll es der neoliberale Kapitalismus seit den 1980ern sein, der psychische Krankheiten zu verantworten hat? Arbeitsverhältnisse, bei denen bis zur Erschöpfung gearbeitet wird, bei denen der Lohn einem deutliche Grenzen in der Verwirklichung der eignen Bedürfnisse setzt und bei denen man obendrein nicht vor einer Entlassung gefeit ist, sind schließlich nichts, was es vorher nicht gegeben hätte. Fisher suggeriert zumindest, dass dies etwas Neuartiges wäre. Tatsächlich ist Lohnarbeit im Kapitalismus ganz grundsätzlich so charakterisiert: Sie ist das entscheidende Mittel, um den Profit des Kapitals zu erzeugen und zu vermehren. Je geringer der Lohn und je höher die geforderte Arbeitsleistung, desto mehr Profit. Und wenn die beschäftigte Anzahl an Arbeitskräften sich nicht mehr als profitabel genug erweist, greift das Kapital zu Entlassungen. Sollte das tatsächlich die Ursache für Depressionen sein, dann existierte diese jedenfalls schon lange vor den 1980er Jahren. Bei Fisher erscheint die Lage der Lohnabhängigen vor Thatcher und New Labour als mehr oder weniger rosig: Feste Anstellungen statt Konkurrenz habe es damals angeblich gegeben, genauso wie „Sicherheit und Solidarität“.3 Das kaum bestreitbare Faktum, dass sich die Bedingungen für viele Lohnabhängige in den Industriestaaten während der letzten Jahrzehnte verschlechtert haben (Reallöhne, Arbeitszeiten, Kündigungsschutz etc.), taugt kaum für eine solche Idealisierung des vorherigen Status Quo.
Apropos Verschlechterung: Mark Fisher weiß natürlich auch, dass weder unerträgliche Arbeitsverhältnisse noch Depressionen etwas Neuartiges sind: Meist schreibt er, dass Depressionen und psychische Krankheiten im Neoliberalismus enorm zugenommen hätten. Das mag zwar stimmen, damit zeigt er aber selbst, dass es beides schon vorher gegeben haben muss. Dasselbe gilt dann auch für die Ursachen solcher psychischen Phänomene. Um zeitlich etwas weiter zurück zu gehen: Bereits in dem 1846 von Karl Marx publizierten Text „Vom Selbstmord“ lässt sich über Fälle von Selbstmorden lesen, welchen „die Entsetzung von Ämtern [...], die Verweigerung von Arbeit, [oder der] plötzliche Fall der Saläre“ vorangingen.4 Fisher versucht sich meist bloß daran, die Zunahme von Depressionen im Speziellen zu erklären, ohne sich den Ursachen ihrer Existenz im Allgemeinen zu widmen.
Wie hängen Lohnarbeit und psychische Krankheiten wie Depressionen also genau zusammen? Meistens begnügt Fisher sich vollkommen damit, diesen Zusammenhang begründungslos zu proklamieren. An anderen Stellen geht Fisher etwas weiter, dazu nun.
Depression und Lohnarbeit
„Depression ist die Schattenseite unserer Wirtschaftskultur, sie ist, was passiert, wenn der magische Voluntarismus auf eingeschränkte Möglichkeiten stößt“, schreibt Mark Fisher in „Warum psychische Gesundheit ein politisches Thema ist“.
Was versteht er darunter? Fisher zitiert den radikalen Therapeuten David Smail, von dem er den Begriff des magischen Voluntarismus5 geliehen hat: Dahinter verberge sich die Vorstellung, dass man das eigene Schicksal selbst in der Hand habe, man könne die einem entgegentretende Welt selbstständig verändern und dafür sei man in letzter Instanz auch verantwortlich. Weiter zitiert Fisher den Psychologen Oliver James: Uns werde gesagt, dass jeder, der hart genug arbeite, es nach oben schaffen könne, unabhängig vom eigenen sozialen Hintergrund. Wenn man keinen Erfolg habe, läge die Schuld bei einem selbst. Fisher plädiert dafür, das umzukehren und die Schuld woanders als bei einem selbst zu suchen.6
Grundsätzlich hat Fisher recht: Das Gefühl, als Mensch zu versagen, eigenen Ansprüchen und gesellschaftlichen Anforderungen nicht zu genügen und dabei selbst am eigenen Scheitern Schuld zu tragen, ist oftmals bestimmend für Menschen, die unter Depressionen leiden. In Erfahrungsberichten berichten Depressive vielfach davon, das Gefühl zu haben, für gar nichts gut zu sein, nichts zu können und wertlos zu sein.7 Sicher gibt es auch Depressionen, bei denen dies weniger eine Rolle spielt. Um diese soll es im Folgenden genauso wenig gehen wie um Depressionen und verwandte Symptome bei Nicht-Lohnabhängigen, z.B. Kapitalist:innen oder vorkapitalistischen Herrscherfiguren.
Schauen wir uns die Phänomene des Scheiterns, auf die Depressive sich derart beziehen, etwas genauer an. Hierbei zunächst all jene, die eng mit Arbeit verknüpft sind: Wer seinen Job verliert oder keinen mehr findet, mag sich das selbst zuschreiben und sich mit dem Gedanken quälen, einfach nicht gut genug für die Anforderungen der Arbeitswelt zu sein. Dasselbe mag für jemanden gelten, der sich Hoffnungen gemacht hatte, in einem besser bezahlten Job zu landen, als dies am Ende der Fall ist. Leute, die sich mit den Anforderungen des eigenen Berufsalltags abkämpfen, verfallen mitunter auf den Gedanken, „einfach nicht für diesen Beruf gemacht zu sein“.8 Und auch jemand, dem es vor lauter Überstunden nicht mehr gelingt, sich in der Freizeit auch nur rudimentär von den Strapazen des Arbeitsalltags zu erholen (was für sich genommen entbehrungsreich genug ist), mag sich obendrein noch mit Vorwürfen malträtieren, er sei selbst an dieser Misere schuld.
Das Ganze lässt sich mühelos übertragen auf die Ausbildung für den Arbeitsmarkt: Schlechte Noten in Schule oder Studium? Probleme damit, das Schreiben langer Hausarbeiten, Prüfungen und den studentischen Nebenjob irgendwie unter einen Hut zu bekommen? Und, ebenfalls unter Studierenden weit verbreitet: Angst, mit der eigenen Ausbildung nur miese Jobs zu ergattern? Auch hier häufig der Gedanke: Selbst schuld dran!
Mag vieles Aufgezählte für sich genommen schon Leid verursachen – Angst vor Arbeitslosigkeit, wenig Freizeit oder ein mieser Job – so kommt der Gedanke, man selbst sei an diesem Mangel schuld, noch eigens obendrauf und potenziert das individuell erlebte Leiden. Erst dieser Gedanke, nicht die erlebte Objektivität selbst, enthält die Möglichkeit des Übergangs zur ausgewachsenen Depression.
„Magischer Voluntarismus“ – notwendig falsches Bewusstsein der Lohnarbeit
Der Gedanke, man sei selbst schuld am eigenen Scheitern, hat, wie Fisher richtig bemerkt, das zur Grundlage, was er als „magischen Voluntarismus“ bezeichnet. Dieser besteht genau in dem Umkehrschluss, dass man den eigenen Erfolg selbst in der Hand habe oder ökonomisch gefasst: Wer hart arbeite, dem stehen alle Wege offen. Ganz im Sinne des Sprichworts: Jeder ist seines Glückes Schmied. Woher kommt dieses weitverbreitete Denken, welches Fisher als spontane Ideologie unserer Zeit bezeichnet? Und, worauf Fisher leider kaum eingeht, wieso genau ist es völlig falsch?
Tatsächlich entspringt dieses Denken dem kapitalistischen Verhältnis der Lohnarbeit höchstselbst. Dazu etwas grundsätzlicher.
Da die Lohnabhängigen selbst keine Produktionsmittel besitzen, können sie nur durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft ihre Existenz sichern. Dabei sind sie voll und ganz davon abhängig, dass sich ein Kapital findet, das ihrer bedarf. Nur, wenn sich ein Kapital von dem Kauf ihrer Arbeitskraft Profit verspricht, erhalten sie einen Arbeitsplatz und einen Lohn. Hält das Kapitel sie für nicht rentabel einsetzbar (wegen neuer Maschinen, Marktlage, Outsourcing....), dann gehen sie leer aus bzw. werden wieder entlassen. Das Los der Lohnabhängigen liegt also voll und ganz in den Händen des Kapitals – keineswegs in ihren eigenen.
Aber, so ließe sich jetzt einwenden, wer sich in der Schule/Universität so richtig anstrengt, kriege immerhin bessere Jobs und wer auf der Arbeit Leistung bringe, kann sich Chancen auf eine Beförderung ausrechnen. Man habe es also eben doch selbst in der Hand.
Das täuscht: Es ist nicht die Anstrengung an sich, welche man in Ausbildung oder Beruf an den Tag legt, die einem potenziell andere Möglichkeiten eröffnet. Denn zusätzlich zur völligen Abhängigkeit vom Kapital bekommen die Lohnabhängigen auch noch ihre Konkurrenz untereinander mit voller Wucht zu spüren. Sie konkurrieren untereinander darum, überhaupt einen Job zu bekommen, wie auch darum, angenehmere zu ergattern. Die größte, entbehrungsreichste Anstrengung in Schule oder Beruf nützt dann absolut gar nichts, wenn sich die Konkurrenz genauso sehr oder noch mehr anstrengt als man selbst.9 Nur in Relation zu den Anstrengungen der einem ökonomisch feindlich gesonnen Konkurrent:innen wird die eigene Anstrengung bewertet; wenn alle in der Schule nur Einsen bekämen, wäre der Sinn der Notengebung völlig verfehlt. Und ganz so wie gute Noten sind auch Arbeitsplätze und die höheren Stellen der Berufshierarchie begrenzt. Das Resultat der Konkurrenz der Lohnabhängigen ist immer wieder aufs Neue, dass sich Leute in der Arbeitslosigkeit oder auf den unteren Rängen der Berufshierarchie wiederfinden. Ganz egal wie viel die Gesamtheit von ihnen an Anstrengungen bringt.
Die fatale Ideologie, den eigenen Erfolg habe man selbst in der Hand, dockt nun an Folgendes in der Realität an: Den Lohnabhängigen steht es ja tatsächlich nicht frei, sich zurückzulehnen und sich „einfach nur“ vom Kapital ausbeuten zu lassen. Sie müssen mit jeder Menge Härte gegen sich selbst ihre Brauchbarkeit für den Profitzweck des Kapitals unter Beweis stellen. Garantiert bekommt man einen Job oder eine höher dotierte Stelle damit zwar noch lange nicht. Aber nur, wenn man das von der Schule an nach allen Regeln der Kunst an sich vollstreckt, kann man sich überhaupt Hoffnungen darauf machen. Wer diese Anstrengung aufgibt, kann eh einpacken.
Die eigene Zurichtung ist also alles andere als ein brauchbares Mittel dafür, irgendeinen bescheidenen beruflichen Erfolg zu erzielen – und dennoch ist es so ziemlich das einzige, über das die Lohnabhängigen verfügen. So verleiht sich die Ideologie, man sei seines eigenen Glückes Schmied, ihre trügerische Plausibilität.
Die Vorstellung enthält zugleich eine beruhigende Verheißung: Der Erfolg liegt ganz in deiner Hand, du kannst es schaffen, wenn du nur willst! Ganz so verhalten sich die meisten Menschen dann auch bei Erfolgserlebnissen. Neben der Freude über einen Umstand, der einem das Leben erleichtert (Jobzusage, Gehaltserhöhung, gute Note), gesellt sich in aller Regel persönlicher Stolz: Man habe sich dies ganz selbst zuzuschreiben. Doch jeder Hochphase, in der man meint sich mal wieder als leistungsfähiger Erfolgstyp bewiesen zu haben, entspricht bei jedem Scheitern eine Tiefphase des nagenden Zweifels, selbst an der eigenen Misere schuld zu sein.
So ist dieser „magische Voluntarismus“ das notwendig falsche Bewusstsein der Lohnabhängigen: Er ist die zu ihrer Lage passende Ideologie. Er ist ein erlogenes Glücksversprechen, das zwangsläufig seine eigene Kehrseite enthält, die wiederum in der Depression kulminieren kann.
Über die Übel des Privatlebens
Auch Themen, die sich eher auf das Privatleben beziehen, können Anlass bieten, sich selbst damit zu geißeln, man selbst sei nicht „gut genug“: Irgendein Aspekt des eigenen Aussehens, der gängigen Schönheitsidealen nicht entspricht; der Eindruck, nicht „gut genug“ für Partner:in oder Freund:innen zu sein; ausbleibender Erfolg auf der Suche nach Beziehungspartner:innen; Einsamkeit; Unzufriedenheit mit eigenen Charakterzügen; (chronische) Krankheit; und vieles andere mehr.10 Auch andere psychische Erkrankungen, wie Angststörungen, können so neben sich noch eine Depression hervorrufen, wenn Betroffene sich die psychische Erkrankung als persönliches Versagen und Scheitern anrechnen.11
Bei allen Unterschieden zu denjenigen Phänomen, die sich auf das Arbeitsleben im Kapitalismus beziehen, existiert doch eine Gemeinsamkeit: Die Vorstellung, ein erfolgreiches und glückliches Leben als Lohnabhängiger sei prinzipiell möglich – ein richtiges Leben im Falschen sozusagen – und man selbst habe es als Subjekt in der Hand, dieses zu erlangen. Hier dann im Bezug auf das Privatleben: Alles, was man tun müsste, wäre die richtigen „Erfolgsbedingungen“ mitbringen oder an sich ausbilden (Aussehen, Charakter, (glückliche) Beziehung, Freundeskreis etc.). Doch die Vorstellung, man selbst sei nicht gut genug für dieses „gelingende Leben“, man stünde sich bloß selbst im Weg, täuscht. Es ist die gesellschaftliche Objektivität, als Lohnabhängiger für feindliche Zwecke benutzt zu werden und daher beständig unter Zeit-, Energie- und Geldmangel zu leiden, die einem das Leben so schwer macht. Kein Privatleben kann das irgendwie ausgleichen.
Vielen Menschen dient die Illusion, ein glückliches Privatleben sei für Lohnabhängige möglich und man habe es selbst in der Hand, zum Aushalten der Zustände – ständig optimieren sie an sich herum. Bei nicht wenigen vergrößert die Kehrseite dieser Illusion das Leiden an den Verhältnissen hingegen noch weiter.
„Serotoninmangel“? Zum gesellschaftlichen Umgang mit Depressionen
Die oben dargestellten Zusammenhänge zwischen dem Lohnarbeitsverhältnis und den Formen seiner subjektiven Verarbeitung bis hin zur Depression liefert Mark Fisher nicht. Statt in dieses materielle Verhältnis verortet er Depressionen in „unsere Wirtschaftskultur“ (womit er vermutlich wieder den Neoliberalismus vor Augen hat).
Was die gesellschaftliche Betrachtung von Depressionen anbelangt, kann man Fisher hingegen in vielem nur zustimmen. Er verweist völlig zurecht darauf, dass Therapieformen wie die kognitive Verhaltenstherapie den fatalen Glauben, man habe seinen Erfolg selbst in der Hand, nicht etwa zertrümmern, sondern oft darauf aufbauen.12 An die Stelle der negativen Überzeugungen, welchen der/die Depressive anhänge, solle bloß ein „set of positive stories“ gesetzt werden.13 Unbestreitbar mag das manchen Betroffenen akut oder sogar längerfristig helfen, dennoch wird so die ideologische Grundlage der Depression nicht angetastet und erst recht kommt so ihre gesellschaftliche Ursache nicht zur Sprache.
Ebenfalls überzeugt Fishers Argument gegen bestimmte psychologische Erklärungsansätze von Depressionen, welche diese als „chemisch-biologisches Problem“ betrachten. Er führt dazu korrekt aus:
„Es ist selbstverständlich, dass alle Geisteserkrankungen neurologisch nachweisbar sind, aber das sagt nichts über ihre Ursachen aus. Es ist z.B. richtig, dass eine Depression durch ein niedriges Level an Serotonin ausgedrückt wird, aber man muss dennoch erklären, wieso bestimmte Menschen ein niedriges Serotonin-Level besitzen. Dafür benötigt man aber eine soziale und eine politische Erklärung […].“14
Fisher wendet sich weiter gegen eine „Privatisierung von Stress“: Arbeiter:innen würden ihre unsicheren und anstrengenden Jobs als naturgegebene Bedingungen akzeptieren. Die Ursachen für Stress würden sie dann in ihrem eigenen Inneren oder ihrer eigenen Biographie suchen.15 Insgesamt würde das einzelne Individuum für seine psychische Notlage verantwortlich gemacht – anstatt zu fragen, welche gesellschaftlichen Ursachen es für die Normalität psychischer Krankheiten gäbe.16
Mit all dem hat Fisher recht. Eben auch damit, die Benennung gesellschaftlicher Ursachen für psychische Erkrankungen einzufordern. Allerdings ist mit dieser Forderung (die er oft wiederholt) noch nicht viel gewonnen, man muss diese Ursachen auch korrekt bestimmen.
Fazit: Materialistische Psychologie statt Scooby-Doo-Marxismus
Bei Mark Fisher liest man zu den Grundlagen der Depression in Lohnabhängigkeit und kapitalistischer Konkurrenz leider nur Andeutungen. Auf der Ebene der Erklärung von Depressionen aus den Arbeitsverhältnissen sowie den dazu passenden ideologisch-psychischen Verabeitungsweisen der Individuen changiert Fisher zwischen verstreuten richtigen Beobachtungen einerseits und Plattitüden andererseits. Der antikapitalistischen Sache ist allerdings mit einem Sooby-Doo-Marxismus, welcher der Depression in der Manier des bekannten Memes die Maske abreißt und den Kapitalismus als Bösewicht enthüllt, nicht gedient. Denn die Selbstvergewisserung, als kapitalismuskritischer Linker auf der richtigen Seite zu stehen, hat keinerlei politischen Mehrwert. Stattdessen ist eine genaue Analyse der materiellen Verhältnisse und ihrer psychologischen Verarbeitung nötig. Mit der ständigen Forderung, „gesellschaftliche Ursachen“ zu benennen, ist es nicht getan.
Wo aber der Zusammenhang zwischen kapitalistischen Arbeitsverhältnissen und Depression oft bloß proklamiert wird, verwundert es nicht, dass nachgelieferte Begründungen Schwächen aufweisen. Von der kapitalistischen Produktionsweise hat Fisher keinen brauchbaren Begriff. Das zeigt sich besonders in seiner Schrift „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative“: Hier meint er, den Kapitalismus durch Metaphern wie „dunkle Potenzialität“, „der Namenslose“, „hyperabstrakte […] Struktur“ auf den Begriff zu bringen und fordert „eine neue Enthaltsamkeit“, da diese dem „kapitalistischen Imperativ eines ständigen Wachstums“ angeblich entschieden widerspreche.17 Bei Marx hätte man nicht nur nachlesen können, dass der Imperativ ständigen Wachstums dem Kapital inhärent ist und daher sicher nicht durch allgemeine Enthaltsamkeit zu bremsen ist. Auch ziemlich konkrete Einsichten über Ware, Wert, Geld, Kapital und Lohnarbeit finden sich in Marx‘ Schriften, besonders dem „Kapital“. „Namenslos“, „hyperabstrakt“ oder anderweitig verrätselt bleibt der Kapitalismus nur, wenn man sich solche Begriffsarbeit – aus welchem Grund auch immer – von vornherein spart.
Angesichts solcher Begriffslosigkeit überrascht es nicht, dass Fisher den Kapitalismus vor den 1980er Jahren idealisiert darstellt. Indem Fisher den neoliberalen Kapitalismus immer wieder besonders anklagt, verharmlost er den Kapitalismus im Allgemeinen.
Für Mark Fisher ist die durchaus richtig erkannte Grundlage der Depression, der von ihm so bezeichnete „magische Voluntarismus“, zwar „die spontane Ideologie unserer Zeit“. Damit meint er aber wieder nicht den Kapitalismus, sondern den neoliberalen Kapitalismus. Letzterer figuriert bei ihm schlechthin als Ursache für psychische Krankheiten. Stets prangert er den Anstieg psychischer Krankheiten und Depressionen in den letzten Jahrzehnten an. Dass es beides schon lange vorher gegeben hat – und welche Ursachen diese Phänomene abgesehen von quantitativen Veränderungen haben – das gerät so völlig aus dem Blick.
Die Depression ist mitnichten ein „neoliberales“ Phänomen, sondern ein kapitalistisches. Sie ist eine Weise des subjektiven Nachvollzugs der Lage, in der die Lohnabhängigen objektiv feststecken: Kein Mittel hat man, das einem ökonomischen Erfolg oder auch nur die Sicherung des Status Quo verbürgt. Und dennoch: Zu sich als Person muss man sich verhalten, als sei man so ein Mittel. Man muss sich selbst zurichten für den Zweck des Kapitals. Der Glaube, mit der eigenen Anstrengung Erfolg garantiert zu bekommen, ist das dazu passende notwendig falsche Bewusstsein. Es beinhaltet stets sein nicht minder falsches Pendant, demzufolge man sich jedes Scheitern selbst zuzuschreiben habe.
Der ideologische Bezug auf die Lohnabhängigkeit, der sich so auch in der Depression niederschlägt, verweist auf die objektive Brutalität dieses Verhältnisses. In der Depression hat sich diese noch weiter in die Psyche der Menschen hinein verlängert.
Depressionen zu haben und unter ihnen zu leiden, ist schrecklich und bitter genug – das bestreitet heute kaum noch jemand. Wie bitter es ist, dass, wer von einer Depression befallen ist, sich ultimativ gegen sich selbst richtet und nicht gegen die Verhältnisse, die ihn fortwährend beschädigen – darüber spricht leider heute fast niemand.
[1]Mark Fisher: K-Punk. Ausgewählte Schriften 2004-2016. Berlin 2020. S. 371-2, 417; Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative. Hamburg 2013. S. 27.
[2]https://www.businessinsider.de/wissenschaft/gesundheit/studie-zeigt-dauerstress-im-job-kann-eure-persoenlichkeit-veraendern/
[3]Fisher: K-Punk. S. 376. S. 417.
[4]Karl Marx: Vom Selbstmord. Köln: Neuer ISP-Verlag 2001. S. 75-6.
[5]Voluntarismus meint, die Wirkungen des bloßen Willens in Situationen, wo er wenig ausrichten kann, zu überschätzen.
[6]Fisher: K-Punk. S. 418.
[7]So auch Mark Fisher in Berichten über seine eigenen Erfahrungen mit Depressionen: Fisher: Good for Nothing. März 2014. Siehe: https://theoccupiedtimes.org/?p=12841
[8]„I [...] didn’t believe that I was the kind of person who could do a job like teaching“, schreibt Mark Fisher über die Depressionen während seiner Zeit als Lehrer. Richtig analysiert er das als „sense of ontological inferiority, which is best expressed in [...] the thought [...] that one is not the kind of person who can fulfill roles which are earmarked for the dominant group [die Kapitalistenklasse].“ Fisher: Good for Nothing.
[9]Hier tritt noch die Niederträchtigkeit hinzu, dass die Startbedingungen, insbesondere in die schulische/universitäre Konkurrenz, alles andere als gleich sind: Was die eigenen Eltern an finanziellen Mitteln und an eigener Bildung mitbringen, entscheidet darüber ob dies einem als Schüler/Studierender zum Vorteil in der Konkurrenz um Noten gereichen kann. Dennoch behandelt das Bildungssystem alle gleich. Es verfestigt so die Ungleichheit.
[10]Leider unter Linken kein seltenes Phänomen ist eine bestimmte Form von „magischem Voluntarismus“: Manche Aktive glauben, ihnen würde politisch viel mehr gelingen, wenn sie nur nicht so „nachlässig“ gegen sich selbst seien. Als „Nachlässigkeit“ gilt dann manchmal schon der Umstand, dass die Notwendigkeiten des bürgerlichen Alltags sich nicht mit Rund-um-die-Uhr-Aktivismus vertragen und jeder Mensch sich auch erholen muss. Ausgerechnet sich als vereinzeltes Individuum beschuldigen manche dann dafür, dass die Verhältnisse sich nicht zum Besseren ändern – auch dies eine Quelle für Depressionen.
[11]Auf dieselbe Weise bedingt eine Depression wieder eine andere Depression und treibt Betroffene mitunter tiefer hinein: „Ich bin selbst schuld an meiner Depression! Andere schaffen es doch auch!“ Und falls einen Depressionen davon abhalten, sich mit Freund:innen zu treffen, aus dem Bett zu kommen oder die Anforderungen von Schule, Uni oder Beruf vollumfänglich auszuhalten, erhält die Selbstanklage, mit einem selbst sei etwas „verkehrt“, neuen Stoff: „So sehr versage ich!“ Ein Teufelskreis beginnt. Auch Fisher hat das eindrücklich an sich selbst beschrieben: Fisher: Good for Nothing.
[12]Fisher: K-Punk. S. 418.
[13]Fisher: Good for Nothing.
[14]Fisher: Kapitalistischer Realismus. S. 48.
[15]Fisher: K-Punk. S. 372.
[16]Fisher: Kapitalistischer Realismus. S. 27.
[17]Fisher: Kapitalistischer Realismus. S. 12, 23, 94. Anderswo hat Fisher manchen Wald-und-Wiesen-Kritiker:innen des Neoliberalismus zumindest ein bisschen was voraus. Er wendet sich dagegen, Konsument:innen oder Banker:innen individuelle Verantwortung für die Übel des Kapitalismus zuzuschreiben und lehnt linke Forderungen nach einem „starken Staat“ ab. Ebd. 79, 80, 91.