Die Dynamik des Aufstands // NC-UHH #2Zur Hungerrevolte in Hamburg 1919
12 February 2022, by J.C. Raupe
Der Aufstand ist beim ersten Hinsehen nur Ausdruck von Unordnung, ein Ausbruch aus dem Korsett des choreographierten Konflikts. Aber wie kann man ihn jenseits von Erzählungen von Barrikaden und Scherben begreifen? Am historischen Beispiel der Hamburger Sülzeunruhen soll die Anatomie des Aufstands untersucht werden: seine kollektive Zusammensetzung, sein ökonomischer Hintergrund, seine Gegnerschaft – wodurch der Aufstand auflebte und staatszersetzend zu werden begann, aber wodurch er auch letztlich scheiterte.
Die Situation geriet im Juni 1919 außer Kontrolle. Fühlten sich die Arbeiter:innen schon länger verarscht von Staat und all seinen Getreuen, griffen sie nun zur Selbstjustiz. Ein Unternehmer – und wie sich Tage darauf herausstellte, nicht nur er – hatten die Hungersnot der Arbeiter:innen ausgenutzt, um ihnen schimmelndes Fleisch billig zu verkaufen. Es formte sich ein spontaner Protest, an dessen Ende der Unternehmer in der Elbe landete und die Arbeiter:innen ihre Waffen gegen das Rathaus richteten. Die begonnene Selbstorganisation und der Bau der Barrikaden war dann auch kaum noch von den Arbeiter:innenparteien aufzuhalten – erst die Armee und die Freikorps konnten unter Weisung der regierenden SPD den Aufstand ersticken.
Hamburg 1919 war damit kein Sonderfall – weder in der zeitlichen Epoche der Nachkriegszeit noch in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen wir uns noch heute wiederfinden. Auch jetzt flammen die Nachrichten aus aller Welt regelmäßig mit Berichten von den verschiedenen Aufständen auf: Minneapolis, Ferguson, Istanbul, London, Athen. Damals wie heute stehen sich in der Marktwirtschaft eine Mehrheit, die ihre Arbeitskraft verkaufen muss, um zu überleben, und eine Minderheit, die die Produktionsmittel besitzt und die Arbeitskraft der anderen einkauft, um ihren Reichtum zu mehren, gegenüber. Dieses Konkurrenzprinzip hat eben auch zur Folge, dass Bedürfnisse nicht immer gedeckt werden können – eben nur dann, wenn die entsprechende Zahlungsfähigkeit vorhanden ist. Der soziale Gegensatz, der aus diesen unterschiedlichen Ausgangspunkten und ihren damit verbundenen Interessen entsteht, ist in dieser Gesellschaft fest eingeschrieben (nichts anderes ist der Klassenkampf): Die Arbeiterin braucht mehr Lohn, um die steigenden Kosten zu bezahlen – die Unternehmerin will den Lohn senken oder gleich komplett einsparen, damit sich die Produktion überhaupt lohnt. Der Konsument muss möglichst billig einkaufen, damit er noch genügend Geld für den Rest des Monats übrig hat – der Verkäufer muss möglichst teuer verkaufen, um nicht pleite zu gehen.1 Diese unterschiedlichen Interessen führen auch auf Seiten der Arbeiter:innen und Konsument:innen immer wieder zu Protest, meist bleibt er in dem gesetzlichen Rahmen, der ihm gestattet wurde, aber manchmal explodieren die Konflikte und es kommt zum Aufstand.2
Während aber jedem klar ist, was ein Streik ist, warum er stattfindet und wer ihn organisiert, ist all das beim Aufstand unklar.
Bürgerliche und auch einige Linke sprechen von gesetzlosen Rowdys, Bilder von brennenden Gebäuden überlagern die theoretische Auseinandersetzung über die Ursachen.
Der Artikel will genau der Anatomie des Aufstands nahekommen, ist er neben dem Streik doch eine der relevantesten kollektiven Kampfformen – und ebenso wie ihm kann dem Aufstand auch der Keim der gesellschaftlichen Umwälzung innewohnen.[3] Dabei soll es zu keiner Glorifzierung des Aufstandes kommen, es muss nicht unbedingt richtig sein, was passiert, nur weil es gegen Staat und Kapital geht und der Aufständische muss nicht unbedingt Recht haben, nur weil er:sie lohnabhängig ist.
I. Krieg, Revolution, Krise
Die Ursprünge des Aufstands in Hamburg 1919 lagen nicht nur an dem unmittelbaren Lebensmittelskandal, sondern in dem gesellschaftlichen Gefüge, dass die klassischen politischen Zusammenhänge der Arbeiterbewegung durch Vertretung von einer Partei und den Gewerkschaften erodierten, und die ökonomischen Bedingungen in der Stadt Hamburg krisenartig zuspitzten. Beides liegt eng zusammen mit dem Ersten Weltkrieg, der nicht nur das Ende der Herrschaftsordnung des 19. Jahrhundert bedeutete, sondern in dem auch Millionen Menschen Hunger litten, vertrieben wurden oder den Tod fanden. Die westeuropäische Arbeiterbewegung war vorher geprägt von einer (meist als sozialdemokratisch bezeichneten) Partei als ihren politischen Arm und den Gewerkschaften als ihre Vertretung auf dem Arbeitsmarkt.4 Beide Institutionen büßten ihren Alleinvertretungsanspruch ein. Denn berühmt-berüchtigt vergaß die europäische Sozialdemokratie ihre internationale Solidarität und unterstützte den Krieg im nationalen Eifer, endlich ihre Loyalität für ihr Vaterland beweisen zu können.5 In Deutschland hieß das nicht nur die Zustimmung für die Kriegskredite, sondern auch konkrete gewerkschaftliche Arbeit. Dem Staat wurde bald klar, dass der Krieg nicht durch Überlegenheit im Militär, sondern nur durch Überlegenheit in der Produktion zu gewinnen war – wer konnte länger durchhalten, mehr Waffen, mehr Lebensmittel produzieren bevor die Wirtschaft zusammenbrach und weder Armee noch die „Heimatfront“ versorgt werden konnte?6 Dazu brauchte der Staat die Unterstützung der Arbeiter und ihre Gewerkschaften boten sich eilfertig an gegen sozialstaatliche Reformen die Arbeiterschaft auf Linie zu halten und Streiks zu unterbinden.
Die Organisationen, die darauf zielten, die Interessen der Arbeiter zu bündeln und gegenüber dem Kapital zu vertreten, boten sich als Dienerinnen von Vaterland und Kapital an.
Ähnlich versagte auch die SPD, den politischen Widerstand gegen einen imperialistischen Krieg zu bündeln. Die lang ersehnte Integration der Arbeiter:innenorganisationen in den Staat sorgte für die Isolierung von Teilen ihrer Anhänger:innen. Die klassische institutionelle Vertretung der Arbeiter:innebewegung löste sich durch die Integration von Gewerkschaft und Partei auf, stattdessen entwickelten die Arbeiter:innen neue Zusammenhänge, informelle Bezugsgruppen und nach der Revolution neue Parteien und Organisationen. Als Konsequenz entstanden bereits während des Ersten Weltkriegs die ersten eigenständigen Zusammenhänge, die an den Gewerkschaften vorbei ihre Interessen durchzusetzen versuchten. Misstrauen gegenüber Staat und den etablierten Organisationen trieb die Arbeiter:innen in Hamburg eben dazu ihre eigenen neuen Verbindungen zu entwickeln, die nicht nur auf der Straße und in der Fabrik zusammentraten, um zu diskutieren, sondern auch konkrete Forderung für die Arbeits- und Lebensbedingungen aufzustellen.7 Denn gleichzeitig wurde die Lebensmittelversorgung in Deutschland immer dramatischer, seit dem Kriegsbeginn 1914 blockierten englische Schiffe die Häfen, weswegen Deutschland keine Nahrungsmittel importieren konnte, sondern vollständig auf seine eigene Landwirtschaft angewiesen war. Das Angebot verknappte sich, die Preise stiegen, die Rationen wurden über die Jahre immer kleiner – während der Schwarzmarkt florierte. Der Mangel an Essen war vor allem in Hamburg und noch mehr in den dortigen proletarischen Vierteln ein Problem, normalerweise angewiesen auf den Lebensmittelimport musste die Bevölkerung nun neue Wege finden (illegal) die eigene Versorgung zu organisieren.8
Die desolate Versorgungslage, die langen Kriegsjahre und der politische Autoritarismus sind einige Gründe, warum die Situation für die herrschende Schicht nicht mehr haltbar war und der Staat im November 1918 politisch zusammenbrach. Als direkte Folge der Novemberrevolution fand sich neben den Arbeiter- und Soldatenräten auch die SPD in den Kontrollpositionen der Macht wieder (auch aus Ermangelung anderer politischer Arbeiter:innenorganisationen, die USPD existierte zwar schon, aber relativ neu und vergleichsweise klein). Partei und Gewerkschaften blieben sich politisch treu und nutzten ihre gewonnene Staatsmacht, um Kapital, Staat und Militär aufrechtzuerhalten und revolutionäre Hitzköpfe blutig niederzuschlagen – schließlich war die Annahme ersterer, dass man ja vom Bürgertum anerkannt werden müsse, um scheinbar vernünftige Politik im Sinne der Arbeiter:innen endlich praktizieren zu können.
In Hamburg verlief die Revolution 1918 noch vergleichsweise friedlich, selbst der Senat wurde nicht abgesetzt, sondern regierte neben dem Arbeiter- und Soldatenrat weiter. Die Spannungen nahmen erst 1919 stärker zu. Der Staat und sein Gewaltmonopol waren eher ein fragiles Konstrukt mit vielen ungeklärten Machtfragen – eine effektive Polizei, die unter seiner Kontrolle stand, gab es nicht, das Militär war in großen Teilen versprengt, seine Soldaten waren mit den staatlichen Waffen nach Hause gegangen. Die staatliche Autorität wurde von vielen Seiten hinterfragt – aus dieser Lage heraus versuchten staatliche Akteur:innen sich zu legitimieren und ihre Macht zu festigen. Die Priorität war vor allem die Verbesserung der Versorgungslage, die Entwaffnung der Arbeiter:innen und die Ermordung jener, die die Selbstorganisation in Räten nicht so schnell abgeben wollten. Die ökonomische Situation hatte sich mit dem Kriegsende nicht verbessert – die Hungersnot herrschte nach wie vor, die Arbeitslosigkeit war hoch, das Misstrauen in den Staat blieb, verbunden mit der Erfahrung an den November 1918 und seine Räte, dass der Staat als Kontrollorgan vielleicht gar nicht so notwendig war. Dementsprechend kam es immer wieder zu Protesten und kollektiven Aktionen, bei denen Arbeiter:innen mit Waffengewalt sich die ihnen unzugänglichen Lebensmittel sicherten oder etwa durch die Besatzung des Rathauses die Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung einforderten.
Die Situation im Jahr 1919 war also von einer anhaltenden wirtschaftlichen Krise, einem schwachen Staat und protestwilligen Arbeiter:innen geprägt – die Grundlage für den Aufstand, der im Juni 1919 in Hamburg explodieren würde.9 In einer Stadt, in der Lebensmittel kaum und Fleisch fast gar nicht zu erhalten war, wurde das Angebot von billigen Ersatzprodukten dankbar angenommen. Die kaum regulierte Branche hatte unterschiedliche Unternehmer angezogen, so auch Jacob Heil, der mit verdorbenen Fellen, die zu Sülze umgewandelt wurden, auf Profit hoffte. Der Plan ging auf, bis im Juni 1919 ein Fass vor der Fabrik zerbrach und die stinkende Masse auf die Straße quoll. Misstrauische, betriebsfremde Arbeiter:innen brachen in die Fabrik ein und sahen ihren Verdacht bestätigt: Es wurden tatsächlich vergammelte Tierprodukte verwendet, um sie als „günstige Nahrung“ an die Arbeiter:innen zu verkaufen. Der Vorfall heizte die gärende Krisensituation der letzten Monate auf. Es versammelten sich Menschenmengen auf dem Rathausplatz und erzürnte Arbeiter:innen griffen zur Selbstjustiz: Der Fabrikbesitzer wurde zum Platz mitgenommen und in die Elbe geworfen (woraufhin ihn die Polizei rausholte und ins Rathaus brachte, um ihn vor weiteren körperlichen Meinungsbekundungen der Arbeiter:innen zu schützen).10
II. Die Revolte und die Spontanität der Arbeiterklasse
Die ökonomischen Konflikte geben letztendlich die Form des kollektiven Konfliktes vor, dementsprechend macht es nur Sinn, dass die ökonomische Krise und der Mangel an Konsumtionsmittel der vergangenen Jahre eben die Grundlage aufbaute, aus dem dann der Aufstand hervorbrechen sollte. Laut Clover ist ein Aufstand eine Grenzüberschreitung, ein Übertritt aus dem rechtlich-gesellschaftlich normierten Rahmen der Konfliktaustragung. Während der Klassenkampf allgegenwärtig ist und der Konflikt unterschiedlicher Interessen in einer choreographierten Auseinandersetzung erwartet und integriert wird, bricht der Aufstand daraus aus.11 Er entsteht aus dem Moment der Verzweiflung heraus, von Subjekten, die sonst nicht gehört werden, die desillusioniert in der Choreografie der Normalität kein Ticket aus ihrem Elend sehen können. Nicht selten führen die ökonomischen und sozialen Entwicklungen, die aus einer Krise heraus entstehen zu diesen Momenten der Ungewissheiten und Verzweiflung, meistens ausgehend von Bevölkerungsschichten, die wirtschaftlich als „überflüssig“ angesehen werden – keine Chance auf Lohnarbeit, Ausbildung oder irgendeiner Chance aus dem prekären Leben zu entkommen. Das sind die ersten Menschen, die von den Folgen der Krise getroffen werden.
Wie der Streik ist der Aufstand eine kollektive Kampfform jener, die nicht genügend Eigentum besitzen, um sich ohne Sorge täglich neu selbst versorgen zu können und deswegen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Nach Clover liegt der Auslöser des Aufstands aber in der Reproduktionssphäre – es geht also nicht wie bei einem Streik um Lohnerhöhung oder bessere Arbeitsbedingungen, sondern um die Unzugänglichkeit zu den notwendigen Mitteln zum Überleben. Von den ersten Aufständen vor dem Kapitalismus bis zu den Unruhen heute, findet sich der Aufstand als kollektive Strategie gegen den Ausschluss von Reproduktionsmitteln wieder. Dabei, so Clover, sind die Teilnehmer:innen an den Aufständen nicht zwangsläufig die klassischen Lohnarbeiter:innen, sondern einfach all jene die von dem (lebensnotwendigen) Konsum ausgeschlossen und ins prekäre (Über)leben gedrängt werden. Die ausgeschlossenen Subjekte setzen den Aufstand dann dem Ausschluss von der Marktwirtschaft entgegen. Das muss weitergefasst werden als bloße Plünderungen, sondern schließt die Rückeroberung des öffentlichen Raumes mit ein. Hinter dem Ausdruck der Gewalt, der Opposition gegen die Unterdrückung findet sich eine weitere, bedeutendere Schicht:
Der Aufstand wird sowohl das Ziel wie auch sein eigener Zweck.
In dieser Auseinandersetzung werden die Beziehungen, die zur Reproduktion notwendig sind von den Aufständischen selbst neu geschaffen, in dem sie versuchen, ihre Lebensgestaltung abseits vom Staat und Eigentum selbst in die Hand zu nehmen und diese militant zu verteidigen.12 Jedoch findet die Neuschaffung gesellschaftlicher Beziehung immer spätestens die zeitlichen und räumlichen Grenzen des Aufstands, sobald dieser befriedigt oder zerschlagen wird, gehen auch diese neuen Organisationsformen mit ihm unter.13
All die Elemente finden sich dann auch bei der Konstellation im Juni 1919 bei den Sülzeunruhen in Hamburg wieder. Geplagt von einer jahrelangen Krise durch den Ersten Weltkrieg, nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch, hungerten die Arbeiter:innen, während sie beobachteten, dass besser betuchte Bürger:innen auf dem Schwarzmarkt ihren Lebensmittelbedarf decken konnten. Daran gewöhnt, dass keine Organisation und kein Staat sie repräsentierte ohne, dass auf diese Druck ausgeübt wurden, sammelten sie sich vor dem Rathaus, um ihren Ärger zu manifestieren.14 Die Kritik schlug um von der Wut über den Lebensmittelskandal einzelner Unternehmer – allen voran Heil - in eine Wut gegen den Staat, der scheinbar nicht gewillt oder in der Lage war, die Versorgung der Arbeiter:innen zu sichern.
Direkt nach dem Ersten Weltkrieg war der Hafen in Hamburg noch blockiert, die Arbeitslosigkeit dementsprechend noch hoch. Viele hatten damit nicht nur weniger Lohn, um sich um die eigene Reproduktion und die der Familie zu kümmern, sondern auch genügend Zeit, um sich in den Straßen und Kneipen herumzutreiben und dort mit anderen Gruppen in Kontakt zu kommen. Die aufkeimende neue Organisation der Arbeiter:innen während des Ersten Weltkrieges konnte so fortgeführt werden – lose, lokal verbundene Gruppen, die nicht institutionalisiert, sondern auf Vertrauensbasis agierten. In ruhigeren Phasen fungierten diese Gruppen als Plattformen für Diskussionen und Informationsaustausch, aber die immer wieder stattfindenden kollektiven Aktionen wurden sicherlich auch auf der Basis jener Bezüge heraus initiiert und durchgeführt: dazu gehörten immer wieder bewaffnete Überfälle zur Nahrungsbeschaffung, Entwaffnung von Militär und Polizei, Angriff staatlicher Gebäude oder den militanten Arbeitslosenprotesten um Ostern desselben Jahres.
Die Hamburger Regierung setzte jedoch diesmal als Reaktion auf die wütende Masse, die sie auch nach acht Monaten Revolution nicht wieder ins genormte bürgerliche Leben überführen konnte, auf staatliche Gewalt. Sie ließ mangels Vertrauens in die eigene Polizei den bürgerlichen Freikorps der Bahrenfelder auffahren, um das Rathaus vor einer Stürmung zu schützen. Das ist der Moment, in dem der Protest in den Aufstand umschlug, denn die Bahrenfelder eröffneten das Feuer.
Als Reaktion antworteten Arbeiter:innen in der Menge ebenfalls mit Beschuss und zündeten die Autos der Soldaten auf Zeit an. Die Protestierenden legten Feuer in der Börse, bauten Barrikaden am Rödingsmarkt.
Man drang in das Strafjustizgebäude ein und zerstörte Akten, um die politische Verfolgung von Aufständischen zu verhindern. Ebenso wurden Polizeiwachen gestürmt, um Waffen zu beschaffen und politische Gefangene zu befreien. Waffenbeschaffungen und Plünderungen fanden sich die folgenden Tage immer wieder, aber ebenso wurden spontan Komitees gebildet, um das gesellschaftliche Leben neu zu strukturieren. Die Mitglieder der Komitees machten deutlich: Sie waren keine Parteienbewegung, beriefen sich weder auf die SPD noch die KPD, sondern vertraten ausschließlich die Interessen der Arbeiter:innen in ihrem Viertel. Es waren Strukturen, die durch die Debattierclubs und der Selbstorganisation während des Ersten Weltkriegs geschaffen worden waren.
Die Arbeiter:innenparteien von SPD bis KPD waren auch dankbar, dass sie nicht Teil der Bewegung sein sollten, verurteilten sie doch den Aufstand und riefen schon am nächsten Tag die Arbeiter:innen auf, zur Ruhe zu kommen und die Waffen abzugeben, damit diese an vertrauenswürdige Arbeiter:innen verteilt werden konnten – sprich: Parteimitglieder. Die SPD fürchtete den Verlust der bürgerlichen Ordnung, die KPD sah in den Aufständischen „zweifelhafte Elemente“, die dem Ruf des Arbeiters und damit dem Klassenkampf schaden würden.
Exkurs: Der Aufstand des „richtigen“ Proletariats? Kritik am Parteikommunismus
Die Beweggründe der KPD sind jene, die im Jahr später durch Lenins Schrift „Linksradikalismus – die Kinderkrankheit des Kommunismus“ formalisiert werden sollten und parteikommunistische Arbeit jahrzehntelang prägen würde. Lenin plädierte für eine Taktik in bürgerlichen Demokratien, die das eben leider noch nicht revolutionäre Proletariat nicht abschrecken würde. Man sollte in die dem Proletariat vertrauten Institutionen wie Parlamente und Gewerkschaften gehen, um diese durch Agitation als „bürgerlich“ oder „verräterisch“ zu demaskieren. Die Hoffnung war, den bürgerlichen Charakter des Parlamentes durch die bloße Anwesenheit kommunistischer Abgeordneter auffliegen zu lassen.
Auch die Hoffnung, den Arbeiter:innen den Verrat der Gewerkschaften vorzuführen, scheitert bereits an der falschen Analyse. Das Handeln der Gewerkschaften entstammt nicht dem „Verrat“ einzelner Führer, sondern dem Erfüllen ihrer spezifischen gesellschaftlichen Funktion, die sie ausführen und damit den Klassenkampf systemkonform integrierten. Gewerkschaften binden das Interesse des Arbeiters an das Überleben der Firma, eine Zweckgemeinschaft zwischen Unternehmer:innen und Arbeiter:innen entsteht.15 Wenn eine Gewerkschaft sich auf diese ideologische Grundlage stellt, kann ein konfrontativer, heißt revolutionärer, Klassenkampf nicht mehr geführt werden (muss er auch nicht mehr).
Die Arbeiterklasse wird verstanden als ungebildeter, unterwürfiger Block, der nach dem Erhören der richtigen Argumente der Partei schon folgen wird. Die Eigeninitiative der Arbeiter:innen, ihre Fähigkeit zur Subversion wird nicht anerkannt – auch hier muss natürlich eingeklammert werden, dass die Arbeiterin nicht automatisch subversiv und revolutionär wird, weil sie Arbeiterin ist. Die Partei löst das Problem, in dem sie die Arbeiter:innenklasse als unmündig erklärt und sich selbst als führendes Monopol deklariert. Die Beziehung zwischen Partei-Arbeiterklasse vergisst: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muß die Tat der Arbeiter selbst sein".
Die Partei kann dabei keine führende Rolle ausüben, sie würde sich als bürokratische Institution immer wieder von der Klasse als Bewegung abstrahieren und eine abstrakte Führungsrolle einnehmen, die entweder zur Systemintegration führt (wie die kommunistischen Parteien in Italien oder Frankreich) oder sich außer Stande findet, eine sozialistische Gesellschaft einzurichten (wie die Bolschewiken oder Mao und seine Parteigenossen). Die Revolution muss durch die Selbst-Organisation der Arbeiter:innen kommen.
Zusammengefasst lassen der Führungsanspruch, die notwendige Bürokratisierung, der Erziehungsgedanke am unmündigen, verbürgerlichten Proletariat die Partei nichts am Aufstand finden, der all dem sorgfältig taktisch durchdachten, in bürgerliche Demokratien integrierenden Ansatz des Parteigedankens widerstrebt. Die Aufständischen waren und sind zu ungehorsam, zu spontan.
Eine Partizipation im Parlament schlägt unweigerlich fehl, da diese bereits effektive bürgerliche Integrationsmaschinen geworden sind. Sie können nicht „benutzt werden“ um für den Kommunismus zu agitieren, stattdessen bindet der Parlamentarismus die Partei und seine Abgeordneten an die demokratischen Spielregeln, bis jeder revolutionäre Impetus verschwunden ist. Um an Wahlen und den Parlamenten teilzunehmen, garantiert die Partei zuerst ihre Verbundenheit zur Verfassung, dem Schutz der staatlichen Ordnung, dem Schutz des Privateigentums – jede politische Handlung bleibt beschränkt in der Affirmation der kapitalistischen Ordnung oder die Partei riskiert ihr Verbot. Nach und nach wächst eine Abhängigkeit von der parlamentarischen Arbeit im Glauben und damit die Abhängigkeit, keine revolutionäre Politik zu betreiben.16
Die Partei konnte nicht die Avantgarde sein und überlies dann die Sache lieber „den Anarchist:innen“. Die theoretische und praktische Auseinandersetzung unterblieb. Ein Phänomen, dass sich in den Jahrzehnten der kommunistischen Parteien in den Parlamenten immer wieder vollzog und sie auch schließlich irrelevant für eine Neue Linke werden ließ.
III. Die blutige Ordnung der bürgerlichen Demokratie
Nicht nur die Hamburger Regierung war alarmiert von den Unruhen in ihrer Stadt, nach den Rätebewegungen in München, Bremen und Berlin fürchtete auch die deutsche Regierung eine weitere revolutionäre Bewegung in der nächsten Großstadt. Nachdem die Hamburger Regierung es nicht schaffte, die Situation schnell zu beruhigen, entsandte sie die Armee unter Führung des Generals Lettow-Vorbeck in die Stadt. Mit Minen und Maschinengewehr rückten 10.000 Mann eine Woche nach Beginn des Aufstandes in die Stadt ein und sicherten strategische Ziele. Jede verdächtige Person (also Arbeiter:innen) wurde erschossen. Das Ziel der Reichswehr war die Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols und Beendigung des Aufstandes um jeden Preis.
Die Grenze des Aufstandes wird gekennzeichnet durch das Durchgreifen des Staates – vor allem die modernen Aufständischen sind seine konkreten Antagonist:innen, die sein Gewaltmonopol in Frage stellt. Der Staat, der durch seine Existenz verspricht, den Klassenkampf im Sinne der besitzenden Klasse, der Bourgeoisie, zu formalisieren, muss den Schutz des Eigentums garantieren. Er muss die bürgerliche Ordnung waren und die Akkumulation des Profites sichern.
Auch die parlamentarische Demokratie setzt das Interesse von Staat und seinem Kapital mit blutiger Gewalt durch.
Ein Aufstand, der auf der einen Seite hin das ökonomische Privateigentum zerstört und auf der anderen Seite hin neue nicht-staatliche gesellschaftliche Beziehungen keimen lässt, kann in dieser Logik nicht akzeptiert werden. Darin liegen auch seine Grenzen, verbleibt er in der Sphäre der Zirkulation, ohne die Produktionsmittel zu übernehmen, wird er nicht in der Lage sein, sich weiterzuentwickeln und dem Staat eine neue Gesellschaftsform jenseits des Eigentums entgegenzusetzen. Abseits von seiner Unfähigkeit sich langfristig militärisch zu verteidigen wird ein Aufstand so über kurz oder lang in sich zusammenfallen. Genau das Schicksal erwartete die Sülzeunruhen in Hamburg. Die Stadt wurde von der Reichswehr eingenommen und jede weitere Entwicklung erstickt. Die Armee setzte die Entwaffnung der aufrührerischen Hamburger Arbeiter:innen endlich durch, nachdem die führenden Arbeiter:innenorganisationen es acht Monate vergeblich versucht hatten. Es starben 80 Menschen und hunderte wurden vom Kriegsgericht verurteilt. Lettow-Vorbeck baute die wankelmütige Polizei neu auf. Sie wurde von seinem Personal übernommen und paramilitärisch neu aufgestellt, um für neue Aufstände bereit zu sein. Es kam zwar noch das Jahr darauf immer wieder zu Unruhen, aber Waffen wurden kaum noch eingesetzt. Bis zum Jahr 1923 waren die Tumulte zunehmend parteipolitisch geprägt und nach dieser Zeit nahmen wie im Rest von Deutschland die Aufstände ab. Die losen Bezüge, die während des Ersten Weltkrieges entstanden waren und auf denen die Selbst-Organisation der Arbeiter:innen beruhte, verschwanden.
Jede bürgerliche Ordnung ist auf den Ruinen vergangener Emanzipationsversuche und den Leichen ihrer Kämpfer:innen gebaut. Im Keim des Aufstands, dass er so spontan und unorganisiert entstehen kann und sich dann mit einer Wucht entlädt, liegt auch sein Niedergang, wodurch er von den staatlichen Sicherheitskräften unterworfen werden kann. Diese Spontanität und Ungebundenheit an eine Arbeiter:innenorganisation lässt ihn unpolitisch erscheinen, aber das Gegenteil ist der Fall. Und solange die Frage nach dem Zugang zur Befriedigung der Bedürfnisse nicht geklärt ist, werden die Aufstände nicht aussterben
[1] Dabei gibt es immer Spielräume nach unten oder oben, aber im Allgemeinen sind die Individuen in dem gesellschaftlichen Verhältnis gefangen, dass ihnen die Marktwirtschaft vorgibt. Ihre Interessen ihrer sozialen Rollen werden ihnen von der Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft vorgegeben, die sie freiwillig oder unfreiwillig mit ihrem Handeln immer wieder bestätigen. Mehr zu dem grundlegenden Funktionieren des Wirtschaftssystems werden erklärt in Marx, Lohnarbeit und Kapital oder Marx, Lohn Preis Profit.
[2] Die gesetzlichen Vorgaben, die Streik, Demonstrationen und Gewerkschaften erlauben, sind dabei vom Staat nicht nur misstrauisch beäugt: Die Arbeiter:innen nehmen die Angebote dankend an, um ihre Interessen gegenüber den Unternehmer:innen zu artikulieren, es kommt zu einem „fairen“ Austausch von Interessen, der dann die Arbeiter:innen dankenswerterweise ins System integriert und ihm jeden Gedanken an Revolution nimmt.
[3] Dabei verdankt der Artikel der Arbeit von Joshua Clover viel, der mit seinem Buch „Riot. Strike. Riot“ die ökonomische Grundlage des Aufstandes untersuchte und versucht, eine Theorie des Riots zu entwickeln. Im Gegensatz zum Buch werden die Begriffe „Riot“ und „Aufstand“ in diesem Artikel synonym verwendet, da sich die Merkmale nahezu decken und der beschriebene Vorfall hier tatsächlich sowohl als Unruhe als auch als Aufstand in die Geschichte eingegangen ist.
[4] Natürlich gab es schon vorher Gewerkschaften und Organisationen, die sich von den sozialdemokratischen Parteien und ihrem Gewerkschaftsbund absetzten, sie blieben aber in der Minderheit und wurden politisch an den Rand gedrängt.
[5] Das ist keine Entscheidung, die von schlechten Führern der Arbeiter:innenbewegung getroffen wurden, sondern letztendlich die einzige logische Konsequenz des politischen Handelns der SPD seit ihrer Gründung. Ihr Versuch war immer geprägt davon, die Arbeiter:innen in der bürgerlichen Politik als Partner:in auf Augenhöhe zu etablieren. In der gegenseitigen Anerkennung sollte die Verständigung liegen, als wäre der Kapitalismus, die Ausbeutung und all ihre Konsequenzen nur ein Missverständnis gewesen. Stattdessen bedeutete diese Politik des „endlich anerkannt werden“ die Unterwerfung unter den grundlegenden Prinzipien des Kapitals – Befreiung der Arbeiter:innen war damit nicht zu leisten.
[6] Bekannter Weise verlor das zaristische Russland diesen Wettkampf als erstes, als im Jahr 1917 die Situation nicht mehr haltbar war. Das agrarische Land konnte mit der Produktionsmacht der Industriestaaten nicht mithalten. Bevor es jedoch zu einer militärischen Niederlage kam, hatten die Arbeiter und Bauern genug und stürzten das Regime, was zur ersten sozialistischen Revolution überhaupt führte.
[7] Das Phänomen ist dem Autor in Hamburg bekannt, aber es ist davon auszugehen und wäre nur logisch, wenn es zu ähnlichen Entwicklungen in den verschiedensten proletarischen Vierteln in Europa gekommen wäre.
[8] Natürlich gab es zugewiesene Lebensmittelkarten, Suppenküchen und ähnliche Eingriffe des Staates in den Lebensmittelmarkt, was aber völlig ineffektiv gegenüber dem Schwarzmarkt oder der anhaltenden Mangelversorgung blieb.
[9] Dass diese drei Elemente gleichzeitig auftraten war auch weniger Zufall, sondern miteinander zusammenhängend. Häufig treten Krise und Aufstand Hand in Hand auf.
[10] Diese Angriffe richteten sich auch gegen die Arbeiter:innen in der Sülzefabrik, die als ebenso schuldig angesehen wurden, die Schimmel-Sülze nicht auffliegen zu lassen.
[11] Sonst gibt es Tarifverhandlung, ein paar Tage Streik, die auch vorher angekündigt werden, damit die Unternehmer den Streik logistisch einplanen können (man will ja seinen Arbeitsplatz nicht verlieren) oder es sind friedliche Demonstrationen und Petitionen, bei denen Politiker:innen und Unternehmer:innen zugleich versichern, dass das ja alles wichtig sei und die Forderungen „mitgenommen“ werden.
[12] Clover dazu in einem Interview mit Dennis Büscher-Ulrich und Marion Lieber (2020): “I think there is a struggle to preserve the possibility of communal life and emancipation and flourishing, and this struggle has two faces. Care and militancy. It must be capable of its own reproduction, be a site of mutual care; and it must be capable of breaking the procedures of capital. These are not opposed, they are the same struggle, and that unity is the real movement.”
[13] Jedoch ist nur der Widerstand gegen die ökonomische Unterdrückung keine Garantie für den emanzipatorischen Gehalt. In jedem Aufstand können sich genauso gut reaktionäre Ideologien verbergen, die der Unterdrückung durch Staat und Kapital nationalistische, rassistische und patriarchale Ideologien entgegensetzen wollen. Nur weil gegen Staat und Kapital gekämpft wird, muss eine radikale Linke sich nicht automatisch in Solidarität dazustellen, sondern kritisch analysieren, ob die Bewegung emanzipatorisches oder reaktionäres Gehalt hat. Die Frage nach reaktionären Aufständen wird hier aber ausgeklammert.
[14] Dabei ist natürlich die Frage, ob die intuitive Handlung sich vor dem Rathausmarkt zu sammeln, aus der Motivation herauskam, an die Mächtigen zu appellieren oder weil vielmehr Märkte in der Innenstadt einen großflächigen Versammlungsraum boten, zu denen möglichst viele möglichst schnell herbeieilen konnten beziehungsweise sich bereits dort zur Erledigung von Einkäufen regelmäßig befanden. Vermutlich auch ersteres, denn die gewohnte Treue zur Sozialdemokratie hatte bisher noch keinen großen Abbruch gefunden.
[15] Die nicht nur ideologischer, sondern innerhalb des Systems ja auch echt materieller Natur ist. Geht die Firma pleite, steht der Arbeiter dumm da. Dabei verkennt aber dieser Kampf, dass nicht die schlechte Lohnarbeit, sondern die Lohnarbeit an sich das Problem ist.
[16] In Deutschland ist dieser anti-revolutionäre Impuls besonders stark aufgetreten mit dem präventiven Verbot der KPD, andere KPs konnten in anderen Ländern noch von der Revolution reden, freilich nur in Sonntagsreden, bis sie diese Phrasen wie in Frankreich freiwillig aus ihrem Programm strichen. Johannes Agnoli hat dazu verschiedenes dazu geschrieben, etwa „Transformation der Demokratie“ oder „Der Staat des Kapitals“.