Betroffenheit und gesellschaftliche Ideale im Antirassismus // NC-UHH #2
11 February 2022, by Frederike Engelhardt
Eine Kritik an dem moralischen Argument der Betroffenheit und dem Standpunkt gesellschaftlicher Ideale am Beispiel des Antirassismus.
Nach dem Tod George Floyds im Mai 2020 wurde das Thema Rassismus (erneut, aber nicht neu) besprochen. Insbesondere in den sozialen Medien erfrischt der Hashtag #blacklivesmatter, der Name einer Solidaritätsbewegung, welche sich 2013 nach dem Freispruch des Polizisten im Todesfall von Trayvon Martin gründete. Diese Solidaritätsbewegung, welche sich für PoC einsetzt, hat diverse Begriffe populär gemacht: Als Nicht-Betroffene erfahren weiße Menschen demnach das „White Privilege“ — also das Privileg, aufgrund ihrer Hautfarbe rassistischem Hass zu entgehen. Da man sich jedoch einig ist, dass auch kein Weißer für seine Hautfarbe, und deshalb für dieses Privileg, etwas kann, sollen Weiße sich eben um „Allyship“ bemühen i.e. Weiße sollen sich in korrekter Weise für die Anliegen von Schwarzen einsetzen. Wie das auszusehen hat, da sind sich die meisten Antirassisten einig, soll von den Schwarzen selbst vorgegeben werden.
„Dear white people: It’s time to shut up and listen“ — Mehrere Artikel und dutzende Social Media-Posts erhielten im letzten Jahr diese Überschrift. In ihnen findet man verschiedene Gründe, warum in der Rassismusfrage die Weißen den Mund halten und den Schwarzen zugehört werden soll: Weil man als Weißer, und demnach Nicht-Betroffener, eben nicht der Anführer dieses sozialen Kampfes sei,1 oder weil echte Heilung erst dann passieren könne, wenn die Weißen den Schwarzen endlich zuhören.2
Damit hat man dann auch den Kern des Arguments: Nach dem Verständnis dieser Antirassisten besteht die Lizenz, die einer braucht, um korrekte Aussagen über Rassismus und dessen Bekämpfung zu fällen, in der Betroffenheit. Nur jemand, der von Rassismus betroffen ist, kann und darf etwas darüber verlieren. Fast so, als sei die Erfahrung, rassistisch beleidigt zu werden, ein Erleuchtungsmoment, welches einem exklusiv die richtige Kritik an Rassismus offenbart. So weit, so schlecht. Denn was das Betroffenheitsargument hier leistet, ist die Reduktion der Kritik am Rassismus auf ihr Motiv. Als bestünde die Kritik am Rassismus bloß darin, dass jemand betroffen ist.3
Mittels Vortragen des unmittelbar Kritikablen: „Ich bin Opfer rassistischer Gewalt“, wird tatsächlich nichts weiter geleistet, als sich Mitgefühl von Anderen zu erheischen und dadurch eine Veränderung des Missstands zu erhoffen. Begegnen tut einem dieses Phänomen in allen Ecken des bürgerlichen Lebens: In Büchern, in Talkshows, in Zeitungen, auf antirassistischen Demonstrationsveranstaltungen — überall treten Betroffene von Rassismus oder deren Stellvertreter vor, erzählen ihre Geschichte und möchten somit „Awareness“ schaffen. Heißt: Der antirassistische Diskurs hierzulande existiert primär als der Appell an die werten Mitbürger, sich über den Umstand des Rassismus doch bitte mal bewusst zu werden. Solche Art von Kritik spart sich dessen Durchführung gänzlich und existiert nur in der Adressierung an das Mitgefühl anderer.
Nun bedarf es zu einer erfolgreichen „Awareness“-Generierung aber noch einen willigen Empfänger. Weil es daran teilweise scheitert (bei Rassisten beispielsweise), oder weil ein sachlicher Ansatz der Anspruch ist, berufen sich manche antirassistische Aktivisten auf eine andere Methode, für ihr Anliegen einzutreten. Der Standpunkt der persönlichen Betroffenheit wird hierzu verlassen, und ein noch fatalerer eingenommen. Denn anstatt sich tatsächlich mal den Gegenstand der Kritik, Rassismus, vorzunehmen, wird nun dafür argumentiert, dass das eigene Leid doch die ganze Gesellschaft etwas anginge, weil es ein Beispiel für die Schlechtbehandlung einer gesellschaftlichen Gruppe darstellt. Und das kann doch keiner wollen. Demnach tritt der Klagende hier zwar insoweit von seinem unmittelbaren Gefühl zurück, als dass er den Fokus nicht mehr auf sein persönliches Leiden legt, dieses jedoch im gleichen Atemzug zu einem Beispiel eines gesellschaftlichen Missstands erklärt.
Woran sich Antirassisten jetzt bloß noch abmühen, ist der verzweifelte Versuch zu beweisen, dass das eigene Interesse, frei von rassistischer Gewalt zu leben, ein berechtigtes sei. „Als Mitglied der Black Community“ argumentieren diese Kritiker im Namen eines wichtigen Bestandteils dieser Gesellschaft und als diese verlangen sie Respekt, Anerkennung, Wiedergutmachung. Dass dieser Respekt überhaupt eingeklagt werden muss, wird als der maßgebliche gesellschaftliche Missstand erklärt, welcher korrigiert werden müsse, um Rassismus korrekt zu begegnen. Rassismus und dessen Vorkommen werden demnach als Vergehen an den Idealen, nach denen sich diese Gesellschaft doch zu richten hätte, gedeutet. Denn da sind sich „die Antifa“ und der Staat sogar einmal einig: Rassismus gehört nicht zu unserer Gesellschaft. Zumindest idealerweise. 4
Dieser antirassistische Standpunkt, welcher seit dem Holocaust maßgeblich das Nationalverständnis der Deutschen prägt, ist ein Beispiel des Standpunkts des gesellschaftlichen Ideals der Gemeinschaft. Eine Idealisierung der Gesellschaft deswegen, weil verkannt wird, dass dieser Gesellschaft Widersprüche innewohnen, die kein „Wir“ zulassen. Auf einer Wandertour, die Freunde gemeinsam unternehmen, kann man von einer Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Interesse sprechen. Unsere Gesellschaft sieht da anders aus. Tagtäglich gehen hier Interessen gegeneinander: Die einen wollen billige Angestellte, die anderen einen gut bezahlten Job. Die einen wollen günstigen Wohnraum, die anderen den bestmöglichen Lebensunterhalt mit dem Vermieten ihrer Eigentumswohnungen verdienen.
Es gibt Lohnabhängige, Beamte, Arbeitslose und Geschäftsführer — ihre Interessen sind nicht nur verschieden, sondern schließen sich gegenseitig aus. Die Kollektivierung dieser Menschen in ein „Wir“ mit einem gemeinsamen Interesse des guten Miteinanders ist eine Idealisierung der Gesellschaft in der wir leben.
Dieses Ideal ist deshalb fatal, weil es eine falsche Vorstellung dieser Gesellschaft ist, aus der nur falsche Schlussfolgerung gezogen werden können. Wie eben die Vertreter des antirassistischen Standpunkts, die, ausgehend von diesem Ideal der Gemeinschaft, annehmen, dass alles was zur Herstellung dieses harmonischen Miteinanders fehlt, die Herstellung eines Bewusstseins über Rassismus sei.
Wer also das Ziel verfolgt, eine richtige Kritik vorzunehmen, der muss sich dem Gegenstand seiner Kritik widmen. Und das fernab von dem Selbstmitleid der Betroffenheit oder der Empörung über den vermeintlichen Vertragsbruch an gesellschaftlichen Idealen. Wer da etwas vorfindet, dass ihm nicht schmeckt, der muss sich die objektiven Verhältnisse vergegenwärtigen, die diesen Zustand hervorrufen und diese prüfen. Am Beispiel des Rassismus bedeutet dies, den bürgerlichen Standpunkt des verletzten Gemeinschaftssinns zu verlassen und sich tatsächlich auf die Suche nach dem Ursprung des Rassismus zu machen.5
[1] https://3downnation.com/2020/06/02/dear-white-people-its-time-to-shut-up-and-listen/
[2] https://www.news24.com/news24/columnists/melanieverwoerd/melanie-verwoerd-sometimes-whites-should-really-just-shut-up-and-listen-20200715
[3] Wer sich jetzt denkt: „Naja, wenn es keine von Rassismus Betroffenen gäbe, dann gäbe es ja auch kein Problem?“, der muss sich mal fragen, wie das in einem erfolgreichen Falle einer ethnischen Auslöschung aussähe. Dann wäre da auch niemand mehr übrig, der von Rassismus betroffen sein könnte, die Ideologie des Rassismus bestünde allerdings fort.
[4] Mehr zu der Kritik an dem antirassistischen Standpunkt kann in dem Artikel ‘Anti-‘ gegen ‘Rassisten’ in der Gegenstandpunkt-Zeitschrift 1-21 nachgelesen werden: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/anti-gegen-rassisten
[5] Wem das tatsächlich ein Anliegen ist, der kann den Artikel „Woher kommt und wie geht Rassismus?“ aus der Gegenstandpunkt-Zeitschrift 1-95 zurate ziehen: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/rassismus