Covid 19 in der Volksrepublik China // NC-UHH #2
10 February 2022, by Jonas Jahnke
In diesem Artikel werden die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie in der Volksrepublik China kritisch betrachtet. Es werden die Effektivität einzelner Maßnahmen aus epidemiologischer Sicht beurteilt. Des Weiteren werden die politischen Implikationen der Eindämmungsstrategie dargelegt und einzelne Aspekte des politischen Systems der VRC hervorgehoben.
Die noch immer anhaltende Covid-19-Pandemie hatte ihren Ursprung mit höchster Wahrscheinlichkeit in der Volksrepublik China (VRC)1 In der zentralchinesischen Millionenmetropole Wuhan war es, wo die ersten Fälle einer neuartigen Lungenerkrankung, deren Symptome denen der SARS-Erkrankung (ausgelöst durch den SARS-CoV-Erreger) von 2002/03 ähnelten, gemeldet wurden. Und in der Tat ähneln sich die beiden zur Gruppe der Betacoronaviren gehörenden Erreger stark, wobei SARS-CoV-2 noch ansteckender und tödlicher als sein Vorgänger ist. Bei beiden Viren wird davon ausgegangen, dass sie von Wildtieren (wahrscheinlich von Fledermäusen über einen Zwischenwirt) auf den Menschen übertragen wurden, dass sie also zur Gruppe der Zoonosen gehören. So entwickelte sich auch das erste bekannte Infektionscluster rund um einen Freiluft-Markt in Wuhan, auf dem überwiegend lebende Wildtiere verkauft wurden. Wie genau die zoonotische Übertragungskette bei Covid-19 aussieht, ist allerdings noch ungeklärt. In der VRC lag die Sterberate, je nach Intensität des regionalen Ausbruchs, bei 0,7-5,8% der Erkrankten.2
Eine natürliche Immunität war auf Grund der Neuartigkeit des Virus zwar nicht festzustellen, bei der Mehrheit der Erkrankten (ca. 80% in der VRC) kam es jedoch lediglich zu milden bis moderaten Beschwerden. Kinder und Jugendliche infizierten sich ebenfalls, entwickelten in den meisten Fällen aber keine oder nur milde Symptome. Zu den Risikogruppen – also denjenigen Menschengruppen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere bis sehr schwere Symptome entwickeln – zählen den Daten aus China zufolge Menschen über 60 Jahre und Menschen mit Vorerkrankungen wie Hypertonie, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen und Krebs. Die Übertragung von Mensch zu Mensch erfolgte auf kurze Distanz durch Tröpfcheninfektion oder Aerosole. Das führte dazu, dass sich Infektionscluster in der VRC vorwiegend in Nachbarschafts- und Familienumfeldern bildeten und dass sich gerade in der Anfangsphase, in der noch wenig über das neuartige Virus bekannt war, medizinisches Personal bei der Behandlung von Corona-Patient:innen infizierte. Bis heute (Stand: 17.10.2021) gibt es weltweit ca. 240,5 Mio. bestätigte Infektionen mit Covid-19 und knapp 4,9 Mio. bestätigte Todesopfer im Zusammenhang mit einer Corona-Erkrankung. In China, einem Land mit über 1,4 Mrd. Einwohnern, infizierten sich offiziell 108.891 Personen mit Covid-19, wovon 4849 starben.3 Verglichen mit anderen Regionen (z.B. Deutschland: 94.622 Tote) sind das bemerkenswert niedrige Zahlen. Regierungen weltweit wenden bei der Bekämpfung der Pandemie teilweise sehr unterschiedliche Strategien und Maßnahmen an. In diesem Artikel werden die in der VRC angewendeten Maßnahmen dargelegt, es wird die Effektivität einzelner Maßnahmen aus epidemiologischer Sicht evaluiert und es werden ihre politischen Implikationen kritisch betrachtet.
Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie in der VRC
Am 20. Januar 2020 wurde Covid-19 in der VRC von offizieller Seite als neuartige, infektiöse Lungenkrankheit anerkannt. Die ersten Fälle traten allerdings schon im November 20194 auf und als der Wuhaner Augenarzt Li Wenliang am 30. Dezember seine Kolleg:innen darauf aufmerksam machte, wurde er prompt auf das lokale Büro für Öffentliche Sicherheit vorgeladen und gemaßregelt. Er habe Gerüchte und Vermutungen, welche nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhten, verbreitet. Erst nach seinem Tod an Covid-19, am 06. Februar 2020, wurde er politisch rehabilitiert und ist seitdem zu einem Volkshelden in den sozialen Medien avanciert. Die Vorverurteilung Li Wenliangs als „Whistleblower“ durch lokale Behörden ist Ausdruck einer politischen Kultur, die seit 2013 das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in der VRC bestimmt. Die seit der Amtsübernahme Xi Jinpings sich verschärfende „Korruptionsbekämpfung“ hat dazu geführt, dass lokale Kader aus Angst vor persönlichen Konsequenzen Probleme eher aussitzen, statt sie transparent mit der Zentrale, geschweige denn der chinesischen Bevölkerung zu kommunizieren. Diese politische Kultur wird wiederum maßgeblich durch die strukturellen Eigenheiten des chinesischen politischen Systems bestimmt. Der nach sowjetischem Vorbild aufgebaute Propagandaapparat der KPCh funktioniert weiterhin nach Prinzip des „Demokratischen Zentralismus“, d.h. sensible Informationen müssen zuerst der Zentrale mitgeteilt werden, bevor diese sie in ideologisch aufbereiteter Form an die Öffentlichkeit gibt. Die Zentrale besitzt das uneingeschränkte Informationsmonopol.5 Im Fall von Covid-19 sorgte erst massiver öffentlicher Druck, in den sozialen Medien und auf der Straße, seitens der durch ein zunehmend überlastetes Gesundheitssystem alarmierten Bevölkerung, für ein politisches Umlenken. So wurde in der Anfangszeit durch Intransparenz und das Verfolgen von „Whistleblowern“ wertvolle Zeit vergeudet.6
Nach dieser Initialverzögerung wurden dann jedoch umso drastischere Maßnahmen umgesetzt. Der bis dahin noch lokal begrenzte Ausbruch wurde zur Chefsache – Premierminister Li Keqiang übernahm die Leitung der neugegründeten „Central Leadership Group for Epidemic Response“ und der Staatsrat etablierte den „Joint Prevention and Control Mechanism“, in welchem sich diverse hohe Regierungsstellen im Kampf gegen Corona koordinieren sollten. Die darauf folgende Eindämmungsstrategie lässt sich grob in drei Phasen einteilen.7
Anfang Januar 2020 begann die erste (1) Phase der Eindämmungsstrategie. Am 03. Januar informierten chinesische Behörden die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über den Ausbruch der neuartigen Krankheit und bereits am 10. Januar entschlüsselten chinesische Forscher:innen die gesamte Genom-Sequenz des Virus und teilten diese mit der WHO. Bis zum 20. Januar lag der Fokus der Maßnahmen auf der lokalen Eindämmung des Virus in Wuhan und anderen Teilen der Provinz Hubei, sowie der Suche nach dem Ursprung des Ausbruchs. Im Zuge der ersten Phase wurden Freiluftmärkte geschlossen, Patient:innen wurden isoliert, Kontakte nachverfolgt, Diagnose- und Behandlungsmethoden wurden entwickelt und diese wurden in Notfallprotokollen zusammengefasst. Die zweite (2) Phase begann, nachdem Covid-19 am 20. Januar 2020 in die offizielle Liste der meldepflichtigen Infektionskrankheiten aufgenommen wurde. Es handelte sich zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr um einen lokal begrenzten Ausbruch, sondern um eine Epidemie nationalen Ausmaßes. In Wuhan und anderen Epizentren ging es nun darum, möglichst viele Menschenleben zu retten und die Kapazitäten der überlasteten Gesundheitsinfrastruktur zu erhöhen, während landesweit Märkte, auf denen Wildtiere angeboten wurden, schließen mussten. Hinzu kamen strikte Reisebeschränkungen („Lockdowns“), die Aussetzung ganzer ÖPNV-Netzwerke und obligatorische Quarantäne bei Erkrankung oder Kontakt mit Erkrankten. In den von Lockdowns betroffenen Gebieten kontrollierte die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) über die sogenannten „Nachbarschaftskomitees“ Juweihui ihre Einhaltung und sorgte so gleichzeitig für die Lebensmittelversorgung der Betroffenen.8
Des Weiteren wurde das Abhalten von Massenveranstaltungen verboten und die Frühjahrsferien wurden verlängert. Außerdem griff der chinesische Staat regelnd in die Wirtschaft ein, indem er bspw. fixe Preise für Masken und andere medizinische Güter festlegte, sowie über das Handelsministerium die Einfuhr von Lebensmitteln in die betroffenen Regionen regulierte. Am 08. Februar 2020 begann schließlich die dritte (3) Phase der Eindämmungsstrategie. Nun ging es neben der Bekämpfung der Pandemie in den Epizentren vermehrt um die Wiederöffnung von Unternehmen und die Rückkehr zur Normalität in Gebieten mit niedrigen Inzidenzwerten. Mithilfe moderner Technologien wie Künstlicher Intelligenz und Big Data wurden Infektionszahlen in Echtzeit an die zuständigen Gesundheitsämter gemeldet und so Risikogebiete identifiziert. In Risikogebieten wurden präventiv massenweise Tests durchgeführt und aufkeimende Cluster durch gezielte Lockdowns eingedämmt. Dabei ist anzumerken, dass das Sammeln riesiger Datenmengen und das Erstellen genauester Bewegungsprofile beim Nachverfolgen von Kontakten natürlich einen enormen Eingriff in die Privatsphäre bedeutet. Diskussionen über Privatsphäre oder Datenschutz wurden und werden allerdings vom Zensurapparat der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) unterbunden, gegen staatliche Maßnahmen zu klagen ist ebenfalls aussichtslos. Das Tragen von Masken im öffentlichen Raum ist wiederum schon seit Jahren gang und gäbe – Erfahrungen mit SARS und der Vogelgrippe haben die chinesische sowie weitere asiatische Gesellschaften von der Wirksamkeit dieser Praxis überzeugt. Zu weiteren staatlichen Maßnahmen in dieser Phase zählen die Übernahme von Behandlungskosten von Corona-Patient:innen, eine nationale Corona-Aufklärungskampagne sowie eine Policy der schrittweisen Öffnung des sozialen Lebens und der sofortigen Wiedereinführung von Maßnahmen beim erneuten Auftreten von Fällen. Auch wurden mehrere Unternehmen mit der Entwicklung von Impfstoffen beauftragt und erhielten dafür von offiziellen Stellen Zugang zu staatlichen Hochsicherheitslaboren.
Effektivität der Maßnahmen
Aus dem WHO-Bericht und anderen Studien geht hervor, dass die Eindämmungsmaßnahmen, insbesondere die Einschränkungen im ÖPNV, die konsequente Kontaktnachverfolgung, das Isolieren von Infizierten und das „social distancing“ sowie das frühzeitige Aufspüren neuer Cluster durch „monitoring“ und Massentests äußerst effektiv waren. Allein die Lockdowns im Januar und Anfang Februar 2020 hätten dazu geführt, dass der R-Wert (Basisreproduktionszahl) in Wuhan von 3,23 auf 0,45 fiel.9 Weniger effektiv waren hingegen die beschlossenen interregionalen Reisebeschränkungen. Forscher:innen haben berechnet, dass die Abschottung Wuhans, also das Verbot, Wuhan per Auto, Zug oder Flugzeug zu verlassen, die Ausbreitung des Virus nicht verhindern konnte, sie allerdings um ca. 4 Tage verzögerte.10 Internationale Reisebeschränkungen seien deutlich effektiver. Einem Modell der Wissenschaftler Lai Shengjie und Andrew Tatem (University of Southampton, UK) zufolge, haben die von der chinesischen Regierung beschlossenen nicht-pharmazeutischen Maßnahmen (Impfungen ausgeschlossen) eine Vermehrung der Zahl der Neuinfektionen um den Faktor 67 verhindert. Allerdings geht aus der Studie auch hervor, dass in der VRC 95% der Infektionen hätten verhindert werden können, wären die Maßnahmen drei Wochen früher eingeführt worden.11
Aus epidemiologischer Sicht waren die drastischen Eindämmungsmaßnahmen also sehr erfolgreich, die repressive Initialreaktion der KPCh sorgte jedoch für den Verlust wertvoller Zeit. Aus politischer Sicht bedeuteten und bedeuten die Maßnahmen massive Einschränkungen im Alltagsleben der chinesischen Bevölkerung und eine Zunahme der ohnehin schon umfangreichen staatlichen Überwachung. Diese wird möglich durch die hoch entwickelte digitale Infrastruktur sowie die umfassenden politischen Handlungsmöglichkeiten, welche die KPCh als de facto alleinherrschende Kraft besitzt. Die größte Gefahr für die politischen Rechte der chinesischen Bevölkerung besteht darin, dass der pandemiebedingte Ausnahmezustand zum neuen Normalzustand wird. Die Null-Covid-Strategie der chinesischen Regierung sieht nämlich vor, dass Maßnahmen bei erneuten Infektionen sofort wieder eingeführt werden.12
Abschließend bleibt festzuhalten, dass die drastische Reduzierung der sozialen Kontakte den ausschlaggebenden Punkt bei der Eindämmung von Covid-19 und anderen Infektionskrankheiten darstellt. Dies wurde in der VRC durch einen gesamtgesellschaftlichen, totalitären Ansatz erreicht. Chinas drastische Maßnahmen werden von internationalen Epidemiolog:innen als größtenteils sehr effektiv bewertet, allerdings wurde in der Anfangsphase zu viel Zeit verschwendet. Nicht zu unterschätzen für den Erfolg so eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes sind die umfassenden politischen Handlungsmöglichkeiten der KPCh als alleinherrschende Kraft. In Deutschland wäre es wohl kaum möglich, eine ähnlich umfassende Eindämmungsstrategie durchzusetzen. Zum einen fehlt in Deutschland schlicht die digitale Infrastruktur, welche für das Echtzeit-monitoring neuer Fälle und eine effektive Kontaktnachverfolgung nötig wären. Zum anderen fehlen politischer Wille und gesellschaftliche Akzeptanz für solch drastische Maßnahmen – die Ausstattung des deutschen Staates mit ähnlich umfangreichen Rechten wäre für die meisten eine Horrorvorstellung sondergleichen.
[1] Der genaue Ursprung der Pandemie ist wissenschaftlich noch nicht abschließend geklärt. Als wahrscheinlichstes Szenario wird die zoonotische Übertragung des Virus im Raum Wuhan angesehen. Siehe dazu Kristian Andersen et al. (2020): The proximal origin of SARS-CoV-2 sowie den Report of the WHO-China Joint Mission on Coronavirus Disease 2019 (Covid-19) vom Februar 2020, S. 4ff. (im Folgenden „WHO-Bericht“)
[2] WHO-Bericht, S. 12
[3] Aktuelle Zahlen werden in Echtzeit von der Johns Hopkins University unter https://coronavirus.jhu.edu/map.html veröffentlicht.
[4] Chinas Regierung datierte die ersten offiziellen Covid-19-Fälle nachträglich auf Dezember 2019. Neuere Studien gehen allerdings davon aus, dass es bereits im November 2019 zu ersten Ansteckungen kam. Siehe dazu David Roberts et al. (2021): Dating first cases of Covid-19.
[5] Zu Informationspolitik und Propaganda, siehe Holbig, Heike (2020): Vom Krisenherd zum Krisenheld: Chinas Umgang mit Covid-19, S. 3ff.
[6] Für eine Darstellung des Falls Li Wenliang, siehe Green, Andrew (2020): Li Wenliang. https://www.thelancet.com/action/showPdf?pii=S0140-6736%2820%2930382-2
[7] Vgl. dazu WHO-Bericht, S. 14ff.
[8] Siehe dazu Wei, Yujun et al. (2021): COVID-19 prevention and control in China: grid governance.
[9] Vgl. Liang, Jingbo et al. (2021): Estimating effects of intervention measures on COVID-19 outbreak in Wuhan taking account of improving diagnostic capabilities using a modelling approach.
[10] Siehe Chinazzi, Matteo et al. (2020): The effect of travel restrictions on the spread of the 2019 novel coronavirus (COVID-19) outbreak.
[11] Vgl. Lai, Shengjie et al. (2020): Effect of non-pharmaceutical interventions for containing the COVID-19 outbreak.
[12] Gründe für das Festhalten an dieser Strategie sind, neben neuen lokalen Ausbrüchen, der geringe Impfschutz der Bevölkerung gegen die Delta-Variante sowie die Aufrechterhaltung des Narrativs der KPCh, man habe das Virus mit Hilfe des überlegenen politischen Systems besiegt. Siehe z.B. Tagesschau Online (2021): https://www.tagesschau.de/ausland/asien/china-null-covid-strategie-101.html