Die Uni dem Kapital 'entreißen'? // NC-UHH #3Eine Anti-Kritik von Heiko Vollmann, Hannover
11 May 2023
DEBATTE: UNIVERSITÄT IM KAPITALISMUSAnmerkung der NC-Redaktion: In dieser Rubrik möchten wir einer Debatte über die Rolle der Universität in den bestehenden kapitalistischen Verhältnissen Raum geben. Wir freuen uns über weitere Beiträge zur Debatte! Wenn ihr euch beteiligen möchtet, schreibt eine Mail an: new.critique@asta.uni-hamburg.de |
In der 'new critique' #1 erschien ein Artikel von Armin Mandelzweig unter dem Titel 'Die Universität des Kapitals', der von einem Vortrag angeregt worden war, den ich selbst am 5.5.2015 unter dem Titel 'Die Freiheit der Wissenschaft' an der Uni Hamburg gehalten hatte.1 Auf Armins Artikel haben die Marxistischen Studierenden Hamburg (im folgenden MSH) in der new critique #2 mit einer Replik unter dem Titel 'Die Universität dem Kapital entreißen' reagiert. Da ich mich sowohl an der Form als am Inhalt dieser Replik störe, folgt hier meine Anti-Kritik.
Übersicht: Bisherige Debatten-BeiträgeIn new critique #1 erschien der Artikel „Die Universität des Kapitals“ von Armin Mandelzweig. In ihm wurde argumentiert, dass die staatlich organisierte universitäre Forschung und Lehre dem Bedürfnis des Kapitals entspricht, profitabel anwendbare Forschungsergebnisse sowie wissenschaftlich ausgebildete Arbeitskräfte zu erhalten. Der Artikel schloss mit der Feststellung, dass wissenschaftliche Kritik an den Verhältnissen notwendig sei, aber außerhalb der Universitäten betrieben werden müsse. Auch weitere Beiträge der Ausgabe kreisten – unter verschiedenen Gesichtspunkten – rund um das Themenfeld „Universität im Kapitalismus“. In der new critique #2 veröffentlichten die Marxistischen Studierenden Hamburg die Replik „Die Universität dem Kapital entreißen“. Sie signalisierten Zustimmung zur These, dass Universitäten „integraler Bestandteil der herrschenden Verhältnisse“ seien, bemängelten aber an dem vorangegangenen Artikel das Fehlen von Praxisvorschlägen. Sie entwarfen im Folgenden ein Programm, welches den Kampf um bessere Studienbedingungen ins Zentrum kapitalismuskritischer Bestrebungen an Hochschulen rückte. In der vorliegenden new critique #3 greift nun im Folgenden Heiko Vollmann in die bisherige Debatte ein. |
Zunächst zur Form. Die MSH schreiben: „Der Schwerpunkt in Armin Mandelzweigs Artikel liegt vor allem auf Theorie, aber einen Vorschlag für eine konkrete Praxis vermissen wir schmerzlich.“ Das „aber“ ist unsinnig; die MSH hätten nach dem ersten Hauptsatz einen Punkt und die Fortsetzung als neuen Satz setzen müssen, denn das Bedürfnis der MSH nach einem Praxistext wollte Armin Mandelzweig gar nicht erfüllen, taugt also auch nicht zum Einspruch gegen ihn. Sein Artikel war in der Tat ein Theorietext, also einer, der einen Gegenstand erklärt und ihn vermittels dieser Erklärung kritisiert. Die MSH haben unter dem Vorwand, eine Replik abzugeben, tatsächlich einen ganz anderen Gegenstand aufgemacht und es nicht der Mühe für wert befunden, sich inhaltlich auf die Argumente Armin Mandelzweigs einzulassen. Der Vorwurf, den sie Armin machen, besteht schlicht darin, er habe nicht über das geschrieben, worüber sie selbst gern schreiben wollten. Man kennt diese Masche aus bürgerlichen Diskursen, z.B. aus TV-Talkshows oder Radio-Interviews, in denen Politiker, statt miteinander oder mit den Interviewern einen Streit von Argumenten auszutragen, lediglich ihre vorbereiteten Statements abgeben und zu diesem Behufe einander gegenseitig ins Wort fallen mit Phrasen wie „Das mag ja richtig sein, Frau Kollegin/Herr Kollege, aber mir fehlt bei dem, was Sie sagen, folgendes...“ – wobei die anfänglich geäußerte Zustimmung lediglich als rhetorische Floskel fungiert, die, zusammen mit dem folgenden „aber“, denselben Gehalt hat wie: „Auf das, was Sie sagen, scheiße ich. Und jetzt zu meinem Anliegen...“.
Einige Zeilen später werfen die MSH Armin vor: „Die Kritik des Bestehenden überwiegt völlig[,] und es bleibt unklar, wie wir die Misere denn nun überwinden.“ Dabei kann jeder, der Armins Artikel aufmerksam liest, diese Frage sehr klar beantworten: Die Misere ist der Kapitalismus selbst; die Universität erfüllt für diesen und seine Reproduktion bestimmte notwendige Funktionen; sie ist also selber eine miserable Institution; also besteht die Überwindung der miserablen bürgerlichen Universität in der Abschaffung des Kapitalismus. Nur unter dieser Bedingung kann ein vernünftiger öffentlicher Bildungsbetrieb eingerichtet werden, der dann tatsächlich den Zweck hat, das Wohl der Menschen zu befördern. Womit wir beim Inhalt wären.
Das Anliegen von Armins Text wird von den MSH grob verzerrt, wenn sie schreiben: „Der Artikel richtet sich gegen die Behauptung, dass, wenn die Universitäten mehr Geld zur Verfügung hätten, diese eine kritische Wissenschaft betreiben würden. (…) Sehr richtig stellt Armin dar, dass die Universität von sich aus keine kritischen Geister erzeugt, sondern sogar [sic!] ideologisch den Kapitalismus verteidigt.“ Armins Artikel richtet sich tatsächlich nur am Rande gegen illusionäre Hoffnungen in die emanzipatorischen Potenzen universitärer Wissenschaft. In der Hauptsache erklärt er, wie und wodurch die bürgerliche Universität dem Kapital dient, indem an ihr korrekte Natur- und Ingenieurwissenschaft betrieben wird, die dem Zweck beschleunigter Akkumulation des Kapitals dient, indem sie durch die Erforschung neuartiger Produktionsmittel und -materialien die permanente Steigerung der Produktivkraft der Arbeit unterm Kapitalkommando und also die Steigerung der Ausbeutung ermöglicht. Dazu kommt dann noch die Ideologieproduktion in den Geistes- und Sozialwissenschaften; aber selbst, wenn es diese Ideologieproduktion an der Uni gar nicht gäbe, sondern nur in der Kirche und den Medien, wäre die Uni als Betrieb bestimmt, der vor allen anderen Interessenten dem Kapital dient. Sie leistet dies gerade dadurch, dass sie, getrennt von der Privatwirtschaft, vom Staat eingerichtet, finanziert und durch die Freiheit der Wissenschaft und das Patentrecht rechtlich reguliert wird. Auf diese zentralen Bestimmungen des Mandelzweig-Artikels gehen die MSH mit keiner Silbe ein.
Das ist kein zufälliges Versäumnis. Vielmehr strotzt der MSH-Text vor lauter schlechten Leninismen. Die 'Marxistischen Studierenden' gibt es nicht nur in Hamburg, sondern an mehreren deutschen Unis. Ihr Zentralorgan ist die Zeitschrift 'Der Funke', trägt also denselben Namen wie das Zentralorgan der russischen Bolschewiki zu Beginn des 20. Jh., das russisch 'Iskra' hieß. Während Lenin selbst sehr wohl zu unterscheiden wusste zwischen theoretischen, d.h. wissenschaftlichen Texten, die einen Gegenstand erklären, und agitatorischen Texten, die zum praktischen Kampf mobilisieren sollen, fällt dies für Marxisten-Leninisten spätestens seit Stalin schlicht zusammen. So auch für die MSH: „Der Kampf für bessere Lebensverhältnisse – und dazu gehören bessere Studienbedingungen – sollte für Marxisten keine sekundäre Rolle spielen. Dieser Kampf ist die Praxis, wie wir Menschen von der Notwendigkeit des Kampfes für den Sozialismus überzeugen. Man muss im praktischen Kampf mitwirken und die Menschen von der 'Überlegenheit' der eigenen Theorie überzeugen, indem sie sich in der Praxis als 'überlegen' herausstellen [sic!]. (…) Dafür brauchen wir ein 'positives Aktionsprogramm' und keine reine negative Kritik.“
Betreffs praktischer Kämpfe mag man ja von 'Überlegenheit' sprechen, zumal wenn es um die der Waffen geht. In der Theorie bzw. der Wissenschaft geht es um 'richtig' oder 'falsch', 'stimmt' oder 'stimmt nicht'. Eine Theorie ist – wenn sie wissenschaftlich verfährt, also in Begriffen, Urteilen und Schlüssen das Allgemeine und Notwendige an ihrem Gegenstand erfasst – die Erkenntnis dieses Gegenstands, die Sache, wie sie im Gedanken gesetzt ist. Sie ist keine „Methode“, liebe MSH, mit der man an die Welt herantritt, um sie sich geistig nach vorgefertigten Rezepten zurechtzul(u)egen. 'Überzeugt' von der Notwendigkeit des Kampfes für den Sozialismus ist derjenige, der die wissenschaftliche Erklärung des Kapitalismus und damit seine verbindliche Kritik eingesehen hat. Ganz bestimmt nicht folgt diese Einsicht aus irgendwelchen reformistischen Kämpfen, sei es nun der Lohnkampf oder der Kampf um eine Demokratisierung der Hochschulen. Sie folgt auch nicht aus revolutionären Kämpfen, die erstens, wenn sie jemals zielführend sein sollen, die theoretische Erklärung der Zwänge, gegen die man sich wehrt, voraussetzen, und zweitens bisher stets noch verloren worden sind – soviel zur Überlegenheit.2
Richtig ist, dass die theoretische Kritik einer Sache noch lange kein Programm zu ihrer Zerstörung ist. Aber ist die Kritik einmal geliefert, dann gehört die Sache auch zerstört. Statt praktische Schritte zur Zerstörung des Kapitalismus vorzuschlagen, plädieren die MSH jedoch für lauter reformistische Änderungen an ihm und in ihm, und benennen GEW und ver.di sowie die LINKE als diejenigen Massenorganisationen, die für Verbesserungen des Bildungsbetriebs zuständig seien und deren Programm es zu 'radikalisieren' gelte, als sei dies bereits der Einstieg in die Revolution.
Die MSH schreiben, „dass der bürgerliche Staat letztlich [!] die Interessen der Reichen vertritt“, und fallen damit theoretisch weit hinter den Mandelzweig-Artikel zurück, der nicht nur viele einzelne Reiche, sondern das gesellschaftliche Gesamtkapital und seinen politischen Sachwalter, den Staat, als Nutznießer bestimmt und präzise die Mittel benennt, mittels derer dieser Nutzen erzeugt wird. Als Gegenmittel bestimmen die MSH den vollständigen Übergang des Bildungswesens in die „öffentliche Hand“ – was ja wohl zurzeit nichts anderes ist als der Staat. Alternativ zur Staatslenkung plädieren die MSH dann für „eine demokratische Kontrolle des Bildungswesens durch Komitees von gewählten Vertretern der Lehrenden, der Studierenden und des Personals der Universitäten“, um dadurch die Uni dem Kapital zu „entreißen“ – ohne die Frage zu beantworten, wie diese Komitees ohne Revolution sich auch der Hochschulgesetzgebung und der Alimentierung der Unis bemächtigen sollen. Es brauche eine „Ausbildungs- und Einstellungsoffensive für mehr qualifiziertes Lehrpersonal“. Diese Offensive soll es ermöglichen, „alle Studierende ihren Bedürfnissen entsprechend zu fördern“ – was nicht gerade ein revolutionäres Anliegen darstellt, wenn man bedenkt, dass es gegenwärtig das vordringliche Bedürfnis der riesigen Mehrheit der Studenten ist, sich an der Uni für die höheren Ränge der kapitalistischen Berufshierarchie zu qualifizieren. Die MSH ignorieren dies Faktum affirmativer Interessen und nehmen die verbreitete Unzufriedenheit über schlechte Studienbedingungen und Berufsaussichten als Indiz für schwelende Systemkritik. Als leninistisch geschulte Kader wollen sie sich mit ihrem „positiven Aktionsprogramm“ an die Spitze einer Bewegung stellen, die nirgends sonst als in ihren idealistischen Köpfen existiert. Statt die objektiven Interessen zu kritisieren, die Studenten qua Studenten im Kapitalismus haben müssen, unterstellen sie ihnen die Sehnsucht nach dem ganz Anderen und empfehlen sich ihnen als Führungsriege im praktischen Kampf für eine Revolution an, die kaum einer tatsächlich will.
Es stimmt schon, dass es, um den Kapitalismus abzuschaffen und den Kommunismus aufzubauen, „eine allseitig ausgebildete Menschheit“ braucht, und dass dafür viele Menschen „Marxist werden und einer revolutionären Organisation beitreten“ müssen. Die MSH scheinen sich aber mit sich selber uneins darin zu sein, ob dies nun mit und in der bürgerlichen Universität oder gegen sie errungen werden kann, und plädieren für dem status quo anschließbare Reformmaßnahmen als vermeintliche erste Schritte zur Revolution. Ihr 'positiver' Aktionismus ist „die Frucht jenes falschen und platten Radikalismus, der die Voraussetzungen annimmt, die Schlußfolgerungen aber umgehn möchte“.3
Außer einigem Arbeiterbewegungspathos sowie etlichen falschen Urteilen über das Verhältnis von Theorie und Praxis, Erkenntnis und Erfahrung, Revolution und Reform hat der Artikel der MSH nicht viel zu bieten. Ihr „positives Aktionsprogramm“ besteht darin, die bürgerliche Uni besser zu finanzieren und rätedemokratisch zu verwalten, um sie damit „den Reichen“ zu entreißen und dem Volk zu schenken, damit es mit ihr nach seinen – vermeintlich revolutionären, de facto jedoch kapitalistisch bestimmten – Bedürfnissen verfahre. Selbst dieses teils stockaffirmative, teils illusionäre Programm müsste seine 'Überlegenheit' in der Realität dann aber immer noch an einigen praktischen Prüfsteinen erweisen:
Werden die Studenten, Dozenten und Angestellten der Uni mit ihrer bürgerlichen Bildung und ihren bürgerlichen Interessen die Uni marxistisch revolutionieren, falls Staat und Kapital sie sich überhaupt 'entreißen' lassen? Falls beides ja, wird der bürgerliche Staat die von ihnen vindizierte Uni dann weiterhin finanzieren, oder müssen das die jobbenden Studis und ihre Eltern tun? Wird der Staat seine Gesetzgebung, die den Laden bisher reguliert, einfach aufgeben und ihnen gestatten, eine staatsunabhängige Gelehrtenrepublik einzurichten? Wird an der Uni dann nicht mehr vornehmlich fürs Erwerbsleben ausgebildet, sondern für den revolutionären Kampf? Ach ja, und was die historischen Erfahrungen angeht, aus denen man angeblich so viel lernt: Gab es Euer Programm nicht bereits 1968? Und was wurde daraus?
Die MSH zitieren am Schluss Engels: „The proof of the pudding is in the eating.“ Fürwahr, was sie uns servieren, ist ein theoretisch wenig gehaltvoller und praktisch ungenießbarer Pudding. Es fehlt dem Artikel, so to speak, an theoretischem Fleisch. Auch wenn's nicht ganz passt als rhetorische Replik (die MSH-Replik auf Armin Mandelzweig passt viel weniger):
"If you don't eat yer meat, you can't have any pudding. How can you have any pudding if you don't eat yer meat?"
(Pink Floyd, Another Brick in the Wall, Schulhof-Szene gegen Ende)
Fußnoten:
[1] Nachzuhören unter https://archive.org/details/FreiheitDerWissenschaft-kapitalkritik.
[2] Die Bolschewiki waren mit ihrer Oktoberrevolution 1917 siegreich und schafften während des Kriegskommunismus 1918-22 tatsächlich den Kapitalismus in Russland ab. Das politisch-ökonomische System, das sie danach einrichteten, war allerdings nicht der von Marx ersehnte „Verein freier Menschen“ sondern eine neue Form der Ausbeutung der Massen für die Machtentfaltung des Staates, und in Sachen Machtentfaltung erwies sich der Kapitalismus langfristig als ertragreicher. Zum Problem des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus und zur Kritik der Sowjetunion vgl. den Vortrag 'Kapitalismus Kommune Übergangsgesellschaft' (PDF und Audio) unter https://archive.org/details/@kapitalkritik
[3] Karl Marx: Lohn, Preis und Profit, MEW 16, S. 131.