Interview: Psychologische Beratung der Poliklinik Veddel // NC-UHH #2„Die Menschen nicht in ihrer Ohnmacht zurücklassen“
13. Februar 2022, von NC Redaktion
Ein Interview mit der psychischen Beratung der Poliklinik Veddel. Es ging um die Einbindung von Gesundheitsarbeit in Stadtteilen, die Einwirkung von Armut und Diskriminierung auf die Gesundheit und welchen Effekt die Pandemie auf die Psyche haben wird.
New Critique: Wer seid ihr? Was ist euer Angebot?
Tobias/Poliklinik: Die Psychologische Beratung grenzt sich ganz klar von einem therapeutischen Beratungsangebot ab. Wir bieten Beratungen auf systematischer Grundlage an und sind gerade vier Kolleg:innen. Alle systemisch ausgebildet. Das deutlichste Kriterium, das uns von der Therapie unterscheidet, ist, dass wir in der Regel erst fünf Termine anbieten. In manchen Fällen finden auch sechs oder sieben Termine statt. Aber das ist sozusagen unser Grundangebot. Das heißt die Dauer ist schon ein Merkmal, da wir uns irgendwann entschieden haben – und das ist wieder ein Stück Selbstbild -, eher breit zu versorgen als intensiv, weil wir relativ schnell gemerkt haben, dass der Bedarf auf der Veddel sehr hoch ist. Bei unserer Ankunft war die Versorgungslage katastrophal und jetzt noch immer nicht richtig gut. Deswegen haben wir gesagt, dass wir lieber vielen Menschen zugänglich sein wollen als wenigen intensiv und dann versuchen zu unterstützen und in Therapie zu kommen, wenn deutlich wird, dass es intensivere Themen und Prozesse gibt.
Die vier Kolleg:innen - zwei männlich und zwei weiblich gelesene -, zwei von denen haben 20 Stunden, eine hat 18 Stunden und ich selber habe keinen festgelegten Stundensatz. Ich habe eine andere Tätigkeit in der Poliklinik für die ich entlohnt werde und mache im Zuge dessen halb ehrenamtlich und weitere zwei bis drei Beratungen die Woche.
Was dieses Jahr neu ist, ist dass eine Kollegin ihr Angebot an Familien richtet. Also an junge Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Ansonsten sind wir offen für alle und alle Themen und wenn eine Person von dem eher geringen Umfang nicht abgeschreckt ist, kann auch alles besprochen werden – da machen wir keine Einschränkungen.
Wir bieten Beratungen an allen Tagen in der Woche und haben einmal in der Woche zwei Stunden eine Krisensprechstunde, die sozusagen immer für Termine, die in der Woche gemacht werden sollen, freigemacht werden.
NC: Die Poliklinik hat ja schon den Anspruch, vor allem die Nachbarschaft zu versorgen. Wie seid ihr denn in das Viertel eingebunden? Seid ihr mittlerweile eine bekannte Größe? Und wie finanziert ihr die kostenlose Beratung?
Ich würde sagen, dass wir mittlerweile eine gute Beziehung in den Stadtteil haben und unser Angebot Vielen bekannt ist – über die psychologische Beratung hinaus. Ein kostenloses psychologisches Beratungsangebot, was sehr niedrigschwellig zugänglich ist – das hat schon zu Interesse über die Veddel hinaus gesorgt und wir haben am Anfang auch Klienten gehabt, die auch von der Nordseite der Elbe gekommen sind. Wir haben das aber zusehends reduziert und auf die Veddel begrenzt. Nicht, dass wir anderen den Bedarf absprechen, aber wir verstehen uns als ein Stadtteilgesundheitszentrum und möchten Modell dafür sein, dass Gesundheitsversorgung kleinräumig stattfindet. Wir sind mit unserem Angebot voll ausgelastet. Auf der Veddel leben 4.000-5.000 Menschen, da ist ein Zentrum mindestens notwendig. Wir würden sagen, in Wilhelmsburg braucht es wieder zwei und auf St Pauli auch und so weiter. Von daher ist es gerade so, dass wir bei Menschen, die nicht von der Veddel kommen, eher sagen müssen: „Das ist leider grad nicht gut möglich.“ Also Wilhelmsburg und Reiherstieg finden schon mal statt. Aber unsere Praxis nimmt ganz klar keine neuen Menschen an, die nicht auf der Veddel leben, weil das nicht geht. Leider.
Unsere Vorstellung wäre, dass es ortsnah und kleinteilig wieder die nächste Poliklinik gibt.
Wir werden jetzt über Quartiersfond und städtisches Geld finanziert – das sind immer Jahresverträge – bei denen wir schauen müssen, dass es über das Jahr hinaus geht.
NC: Im Viertel sieht man immer wieder Sticker von euch, bei denen ihr auch auf soziale Unterschiede hinweist und welchen Einfluss diese auch auf körperliche Gesundheit haben. Wie würdet ihr den Zusammenhang zwischen Armut, Diskriminierung und psychischer Belastung sehen?
Dass der besteht, würde ich auf jeden Fall sagen. Es ist einfach so, dass die Menschen auf der Veddel mit Lebensumständen konfrontiert sind, die aus unserer Sicht kontinuierlichen Stress verursachen und wo vor allem der erlebte Kontrollpunkt außerhalb ihrer selbst liegt. Es gibt ja Stressmomente, wo ich einfach nach einer gewissen Einschätzung der Lage zu einem Punkt komme: „Ok, wenn ich das und das mache, wird sich der Stress reduzieren oder das, was mir Stress macht, wird sich auflösen lassen.“ Wenn wir auf Lebensverhältnisse und soziale Determinanten schauen, wie jetzt Wohnverhältnisse, Arbeitsverhältnisse oder – was du angesprochen hast – Ausgrenzungen und Diskriminierung; das sind Dinge, da kann ich ad hoc oder mittelfristig nur schwer dran drehen. Das zu wissen - wenn auch nicht immer bewusst - es aber doch vor Augen zu haben und damit sich kontinuierlich auseinandersetzen zu müssen, sind Stressoren, die sich körperlich und gesundheitlich niederschlagen und zu einer Lebenszeitverkürzung führen. Das zeigen auch viele Daten für Hamburg. Aber auch global gibt es Daten dazu. Die Schwierigkeit liegt darin, einerseits darauf aufmerksam zu machen. Das andere ist, die Menschen nicht mit diesem Wissen und in dieser gefühlten oder reellen Ohnmacht zu zurücklassen. Es gibt immer diese Abwägung, zu sagen, „Wir denken, das ist so“ und zu schauen, wo man ansetzen kann.
Deswegen würde ich auch nochmal das gesamte Angebot der Poliklinik eingehen wollen: Es geht darum interdisziplinar zu versorgen. Aber wir sehen auch die Gemeinwesenarbeit als Gesundheitsversorgung an und haben sie direkt in der Poliklinik verankert. Das ist ein Versuch, der auch gelingen kann, wenn man mehr Kapazitäten erhält und es institutionalisiert.
Weg vom individuellen, hin zum kollektiven. Hin zu den Strukturen, um zur Selbstermächtigung zu kommen.
Das sind natürlich große Räder.
Die haben aber einen sehr eindeutigen Einfluss darauf, wie krank oder gesund die Menschen werden – am Ende leider auch darauf, wie alt sie werden.
NC: Der Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung ist ja stereotypischer Weise schwieriger als zur körperlicher Gesundheitsversorgung. Merkt ihr das in eurer täglichen Arbeit? Ist die psychische Versorgung auch für alle Menschen gleich zugänglich oder merkt man zum Beispiel, dass bestimmte (internalisierte) Geschlechtervorstellungen daran hindern, Hilfe zu suchen? Oder dass die Gesundheitsversorgung auf PoC noch mal rassistischer reagiert. Bekommt man diese Diskriminierungen mit bei der Arbeit?
Was wir ganz klar mitkriegen, ist, dass es eine psychotherapeutische Unterversorgung gibt, mindestens auf der Veddel, aber auch in Wilhelmsburg. Vielleicht pauschal auch in ganz Hamburg.
Man merkt deutlich, dass auch gerade Menschen, die diese Hilfe brauchen, auch noch mit einer schlechten Versorgungsstruktur konfrontiert werden. Das ist doppelt fatal.
Wie weit Ausschlüsse passieren – bei uns selbst haben wir zu Beginn bemerkt, dass der Anteil von weißen, jüngeren eher studentischen Personen, die uns aufgesucht haben, relativ hoch war. Das hat sich so langsam gewandelt. Das ist einmal die Frage der Ansprache. Aber auch eine Frage der Sensibilisierung. Was ich eben ganz grundsätzlich meinte, inwieweit sind Personen dahingehend sozialisiert, bei sich selbst wahrzunehmen, dass psychologische Beratung hilfreich sein könnte, dass sie also ein Anliegen an diesen Fachbereich haben. Ich glaube, dass da eine Sensibilisierung langsam stattfindet – da gibt es natürlich Fragen wie die der Sprachlichkeit. Wir versuchen das Angebot mit Dolmetscher breiter zugänglich zu machen, aber das sind Hürden, die auch etwas sehr Manifestes haben. Gerade in der psychologischen Beratung ist Sprache das Werkzeug. Und zu wissen, da ist eine Sprachmittlung nötig und ich kenne die Person nicht, die sprachmittelt, das ist für einige schon eine Hemmung. Aber auf jeden Fall ist erkennbar, dass die Nutzer:innen-Gruppe in unserem Fachbereich zunehmend durchmischt. Das freut uns total, aber das hat, denke ich, verschiedene Faktoren.
Und ich glaube, dass nur Rassismen struktureller Natur in unserer Gesellschaft alltäglich ablaufen und ich würde einem Menschen auf der Veddel nicht vorwerfen, wenn er davon ausgeht, auch in der Poliklinik damit konfrontiert zu werden. Also wenn ich in meiner Lebenswelt zu 70/80 Prozent mit Rassismus konfrontiert werde, warum sollte es dann anders sein? Ich denke, dass wir nach viereinhalb Jahren an einem Punkt sind, wo immer mehr Bewohner:innen bestenfalls schon Erfahrungen mit uns gemacht oder zumindest irgendwo von uns gehört haben, dass wir ein Ort sind, der sich sehr viel Mühe gibt, sensibel zu sein. Aber das beginnt noch, da sind in Hinsicht von Beziehungsaufbau und -gestaltung noch sehr gefragt. Aber da hat ein guter Weg begonnen.
NC: Der Aufbau der Beziehungen findet über die Stadtteil-/Gemeindearbeit statt?
Ja, zum einen das. Da finden andere Formate statt. Zu Corona haben wir immer mal einen Infotisch. Wir versuchen schon rauszugehen und Kontakt aufzubauen, z.B. zur islamischen Gemeinde und zu anderen Institutionen. Aber ich glaube, es ist auch nicht geringzuschätzen, dass wir in fünf Fachbereichen plus Gemeindehilfenarbeit versorgen und allein die beiden Praxen haben pro Quartal über 2000 Scheine - das heißt so viele Menschen kommen dorthin und lassen ihre Gesundheitskarte durchziehen. Es findet viel Versorgung statt, worüber erlebbar ist, wer wir sind und was unser Anspruch ist. Und ich denke, dass das alles zusammen dazu führt, dass eine Beziehung Gestalt annimmt.
NC: Die aktuelle Lage ist ja stark durch die Pandemie geprägt. Wie hat das die Beratung berührt?
Als erstes gab es keine face-to-face-Beratung mehr, sondern nur telefonisch oder per Zoom. Wir hatten schon den Eindruck - da weiß ich keine genaue Verteilung - dass einige das als Vorteil empfunden haben zu Hause am Computer sitzen zu können. Aber für die meisten war das mega scheiße, weil sie die Infrastruktur nicht haben oder es für sie eine Hemmung bedeutete. Wir hatten das Gefühl, dass durch Isolation, Unsicherheit und Vorsicht, die sich im Alltag sehr schnell eingestellt hat, Viele, die zwar stabil, aber in ihrer Lebenssituation nicht gefestigt waren, auf die andere Seite gekippt in Richtung instabil sind. Da sind dann Krisen zeitnah aufgetreten, die sonst nicht aufgetreten wären. Oder Menschen haben ihre Struktur verloren.
Gerade in prekären Arbeitsverhältnissen ist für viele Menschen etwas weggefallen und dann konnten sie nirgendwo hingehen, sondern saßen zu Hause. Und das hieß dann, sich mit den eigenen Themen konfrontieren.
Da hat man schon gemerkt, dass das für neue Bedarfe gesorgt hat. Wir haben dann recht zeitnah ein Gruppenangebot online initiiert, um gerade so dem strukturierenden Bedarf nachzukommen. Morgens um 9 Uhr gab es diese Gruppe. Die war dann nicht immer so tiefgehend, aber das war dann klar: morgens mache ich den Rechner an und dann sind da sieben Personen, mit denen ich mich austausche. Und morgen auch wieder und übermorgen auch wieder. Wir haben viel Feedback erhalten, dass das wichtig war.
Ich würde auch sagen – Stichwort Kollateralschäden –, dass es jetzt erst richtig losgeht. Also die prekären Arbeitsverhältnisse, die weggebrochen sind, aber auch der familiäre Kontext, die Einsamkeitsgeschichten, dann Menschen, die erkrankt waren, die wirklich Ängste durchgestanden haben – so ganz viele Themen um Krise und Pandemie, die sich jetzt mehr setzen und mehr Auswirkungen haben, weil Menschen jetzt Bedarfe entwickeln, was psychologische Beratung und Unterstützung angeht.
NC: Habt ihr Pläne, wie ihr in Post-Pandemie-Zeiten auf die neuen Bedarfe eingehen wollt?
Es gibt zumindest Gelder, die dahingehend abgerufen werden können und wir wollen sehen, dass wir kapazitätenmäßig gut aufgestellt sind. Wir sorgen dafür, dass unser Angebot zumindest nicht kleiner wird, sondern den Umfang behält, den es jetzt hat. Jetzt schreiben wir Anträge, damit es im Jahr 2022 so gut weiter gehen kann. Mit vier Personen und dem Stundenumfang sind wir gut aufgestellt – auch für uns, damit wir ein Team haben, in dem wir uns selbst gut unterstützen können. Der Anspruch ist auf jeden Fall die Kapazitäten zu sichern.
NC: Wann kann man sich eigentlich an euch wenden? Welche Optionen gibt es für Menschen, die Beratung haben wollen, aber nicht auf der Veddel leben?
Zum Beispiel in Wilhelmsburg gibt es Lotse, mit denen wir kooperieren. Anlaufpunkte gibt es auch in Wilhelmsburg. Therapeutisch ist es leider echt schlimm. Um Wilhelmsburg versorgen nach meinem Stand drei oder vier Therapeut:innen. Wir empfehlen den Menschen immer, sich an die Ausbildungszentren zu wenden, was leider immer norderelbisch ist und demensprechend auch Mobilität erfordert. Ansonsten ist die Versorgungslage leider nicht gut. Da kann ich nicht viel Schöneres sagen. Wir hoffen in der Poliklinik auch, dass wir selbst mittelfristig ein therapeutisches Angebot schaffen.
Poliklinik Veddel:
Mail: psychberatung@poliklinik1.org
Website: http://poliklinik1.org/psychologische-beratung
Psychologische Beratung AStA Uni Hamburg:
Mail: Psych-Beratung@asta.uni-hamburg.de
Website: https://www.asta.uni-hamburg.de/2-beratung/05-psychologische-unterstuetzung.html