Imperialismus: Was ist das und warum sollten wir dagegen sein? // NC-UHH #3
18. Mai 2023, von Chris Cutrone
Übersetzung von Marius, Platypus Hamburg
Anmerkung der NC-Redaktion: Wir drucken diese über 15 Jahre alten Ausführungen heute ab, da sie einige wichtige Kritikpunkte an antiimperialistischen Auffassungen äußern, die angesichts aktueller linker Diskussionen über Kriege nichts an Richtigkeit verloren haben. Insbesondere der ressentimentartige Antiamerikanismus, die Unterstützung noch der barbarischsten, manchmal islamistischen Oppositionsbewegungen gegen westliche Mächte sowie die Weigerung, sich differenziert mit der tatsächlichen Lage in den Kriegsgebieten zu beschäftigen, sind Fehler der Linken, auf die Chris Cutrone zu Recht hinwies. Wir hoffen, mit der New Critique etwas zum von Cutrone geforderten Projekt der Hinterfragung linker Kategorien sowie der Aufklärung linker Geschichte beizutragen. |
Am 30. Januar 2007 veranstaltete Platypus sein erstes öffentliches Forum zum Thema "Imperialism: What is it—Why should we be against it?" Das Podium bestand aus Vertretern der Gruppen “International Socialist Organization”, “News and Letters”, “The New Students for a Democratic Society (SDS)”, “Open Democracy” sowie Chris Cutrone von Platypus. Im Folgenden ist die Übersetzung des Eingangsstatement von Chris Cutrone abgedruckt. Das vollständige Video und das editierte Transkript aus der Platypus Review 25 (Juli 2010) sind online unter dem auch unten genannten Link zu finden.
Chris Cutrone: Platypus ist nach diesem Tier benannt, weil es unverständlich ist und sich einer Klassifizierung widersetzt. Wie unser Namensvetter sind wir der Meinung, dass eine authentische Linke heute von der bestehenden Linken fast nicht erkannt würde oder, wenn sie erkannt würde, nur als lebendes Fossil angesehen würde. Wir konzentrieren uns auf die Geschichte und das Denken der marxistischen Tradition, aber auf eine kritische und undogmatische Art und Weise, die nichts als selbstverständlich voraussetzt. Wir tun dies, weil wir unsere Gegenwart, die Politik von heute, als Folge der Selbstliquidierung der Linken im Laufe von mindestens einer Generation erkennen. Es ist unsere Feststellung und Provokation, dass die Linke, verstanden in ihren besten historischen Traditionen, tot ist. Sie muss sowohl theoretisch als auch praktisch auf den grundlegendsten Ebenen völlig neu formuliert werden.
Die Frage des Imperialismus bietet einen guten Rahmen, um die gegenwärtige internationale Krise der Linken zu untersuchen. Obwohl die Frage des Imperialismus für die Linke schon seit einiger Zeit problematisch ist, hat sie in letzter Zeit besonders groteske Formen angenommen und jegliche Kohärenz verloren, die sie in der Vergangenheit hatte. Heute verrät es symptomatisch den Verlust an emanzipatorischer Vorstellungskraft in der Linken. Die gegenwärtige Anti-Kriegs-Bewegung setzt ihren Kampf gegen den jüngsten Krieg fort, indem sie das Schema des Vietnamkriegs und der von den USA in Lateinamerika geführten Aufstandsbekämpfung falsch anwendet. Dort kämpften die USA gegen fortschrittliche Akteure des sozialen Wandels. Dasselbe kann man heute nicht mehr sagen. Die Linke verwechselt nicht nur die Vergangenheit mit der Gegenwart, sondern läuft auch dem krassesten Opportunismus der Demokratischen Partei hinterher, für die die Bush-Regierung umso mehr an den Pranger gestellt werden kann, je mehr Tote es im Irak gibt.
Die Linke hat die Verantwortung für eine selbstbewusste Politik der progressiven sozialen Transformation und Emanzipation aus der Hand gegeben. Stattdessen werden die US-Politik und die Realitäten, mit denen sie sich auseinandersetzt, opportunistisch verunglimpft. So drückt sich die Linke davor, ernsthaft über ihre eigene unbequeme Geschichte nachzudenken, über ihre eigene Rolle dabei, wie wir hierher gekommen sind. Die schlimmsten Ausdrücke dafür finden sich im maßlosen Hass auf Bush und in der in einigen linken Kreisen leider weit verbreiteten Vorstellung, die US-Regierung habe die Anschläge vom 11. September inszeniert.
Wir von Platypus erkennen an, dass linke Politik heute durch ihre Verzweiflung über die begrenzten Möglichkeiten des sozialen Wandels gekennzeichnet ist. Was auch immer an Visionen für einen solchen Wandel in der Gegenwart existiert, entspringt einem verletzten Narzissmus, der von der Art von Abscheu beseelt ist, die Susan Sontag in den 1960er Jahren zum Ausdruck brachte, als sie sagte: "Die weiße Rasse ist das Krebsgeschwür der Menschheitsgeschichte."1 Der Wunsch nach Veränderung ist reaktionär geworden. Die Linke hat sich in eine Apologetik für die Welt, wie sie ist, für bestehende soziale und politische Bewegungen verwandelt, die nichts mit Emanzipation zu tun haben. So droht die Linke die neue Rechte zu werden. Viele, die sich für links halten, verbrämen islamistische Aufständische als Verfechter der nationalen Selbstbestimmung. Man erinnere sich an Ward Churchill, der die am 11. September getöteten Büroangestellten als "kleine Eichmanns des US-Imperialismus" bezeichnete, oder an Lynne Stewart, die Bürgerrechtsanwältin, die sagte, dass Scheich Abdul Rahman, der 1993 den ersten Bombenanschlag auf das World Trade Center inszenierte, ein legitimer Freiheitskämpfer sein könnte.
Die Linke hat ihre grundlegende Ausrichtung auf die Freiheit verloren, ein Problem, das mindestens bis in die 1930er Jahre zurückreicht. Die Perspektive, die die Linke einst auf die Frage und das Problem der Freiheit hatte, hat sich in der Gegenwart verschlossen. Infolgedessen hat sich die Linke weitgehend in konkurrierende Rationalisierungen für eine schlechte Realität aufgelöst, die die Linke in ihrer langen Degeneration nicht nur nicht verhindert, sondern sogar mit verursacht hat. Je eher wir die Fäulnis in der Linken eindämmen, desto besser, aber zuerst müssen wir die Tiefe des Problems erkennen. Deshalb widmen wir von Platypus uns der Erforschung der Geschichte des Niedergangs der Linken, damit die Phantasie für soziale Emanzipation wiedergewonnen werden kann. Die Linke kann nur überleben, wenn sie sich selbst überwindet. Die ernsthafte Hinterfragung der in der Linken vorherrschenden politischen Kategorien, nicht zuletzt des Imperialismus, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung einer kohärenten Politik, die die Welt in eine emanzipatorische Richtung verändern kann. Die Feinde des sozialen Fortschritts haben ihre Visionen und verfolgen sie. Einige sind reaktionärer als andere. Die einzige Frage, die sich uns jetzt stellt: Was werden wir auf der Linken tun?
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[1]. Susan Sontag, “What’s Happening in America?” in Styles of Radical Will (New York: Picador, 2002), 203. Originally published 1966.
https://platypus1917.org/2010/07/09/imperialism-what-is-it-why-should-we-be-against-it/