Zwischen Reaktion und RevolutionDas Scheitern des Antiimperialismus und die Notwendigkeit seiner Rückkehr
17. Mai 2023, von J.C. Raupe und Theo Heidelberger
Der Antiimperialismus ist längst kein relevanter politischer Faktor in der radikalen Linken Deutschlands mehr. Diskreditiert durch seine antisemitischen Seiten, spielt er in Theorie und Praxis kaum noch eine Rolle. Wir zeigen auf, woher seine reaktionären Tendenzen stammen und warum es notwendig ist, die antiimperialistische Theorie zu revolutionieren, um sie zurück auf die politische Bühne zu holen.
von J.C. Raupe und Theo Heidelberger
In Zeiten von Pandemie, Krieg und Wirtschaftskrise wurde deutlich aufgezeigt, dass der Kapitalismus und seine Folgen global sind – seine Krisen treten in jedem Land auf. Um aktuelle Kämpfe, Krisen und den politischen Gegner begreifen zu können, muss global gedacht und gehandelt werden, wenn es eine Chance auf den politischen Erfolg des Kommunismus geben soll. Aber eine simple Rückkehr zum alten Verständnis von Antiimperialismus wird nur in die alte Falle führen – zu schnell endete diese Theorie in der reaktionären Sackgasse antisemitischer Haltungen. Es muss eine Revision der alten Thesen geben, damit eine kommunistische Antiimperialismus-Theorie des 21. Jahrhunderts entwickelt werden kann. Hierfür wollen wir zuerst klären, was wir unter den Grundbegriffen Antisemitismus und Antiimperialismus verstehen, wir erstellen also kurze Arbeitsdefinitionen. Im zweiten Abschnitt hinterfragen wir den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Antiimperialismus. Wir analysieren, wie sich der antisemitische Antiimperialismus darstellt und wie diese Verbindung von Antisemitismus und Antiimperialismus zustande kam. Zuletzt widmen wir uns der Frage, wie sich aus diesen Erkenntnissen ein neuer Antiimperialismus bilden kann, der einem modernen, emanzipatorischen Anspruch gerecht wird.
Dieser Artikel ist in der Debatte zwischen zwei Genoss:innen entstanden und hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir beide hoffen, mit diesen Thesen eine größere Debatte anstoßen zu können.
Grundbegriffe
Grundsätzlich lässt sich der Antisemitismus als eine ideologische Wahrnehmung gegenüber jüdischem Leben deuten. Antisemitismus behauptet eine vermeintliche jüdische Übermacht, die fest in Medien, Wirtschaft und Politik verwurzelt sei. Dabei handelt es sich bei der Wahrnehmung nicht um bloße Voreingenommenheit, vielmehr bildet sich daraus ein geschlossenes Weltbild.
Dieser Artikel verfolgt die Bestimmung des Antisemitismus unter einem ideologiekritischen Verständnis. Die Unterscheidung verschiedener Formen des Antisemitismus ist somit erstmal nicht zentral und wird höchstens beiläufig behandelt. Als Ideologien werden Welterklärungskonzepte oder Weltanschauungen verstanden, welche versuchen, die Welt im Konkreten zu begreifen und vermeintliche Antworten auf soziale, persönliche, religiöse oder politische Fragen und Probleme zu liefern. Regressive Ideologien dienen zur Rationalisierung von Ausbeutung und Diskriminierung sowie zur Verfestigung des eigenen Konkurrenz-Subjektes in einer wettbewerbsgesteuerten Gesellschaftsordnung.
Der Antisemitismus dient als ideologisches Welterklärungskonzept, bei dem die Komplexität der Moderne und des Kapitalismus heruntergebrochen wird. Dabei sollen die Widersprüche sozialer Fragen erklärt werden und die negativen Begleiterscheinungen der Moderne als „jüdisch“ markiert werden. Antisemit:innen erschaffen ein Bild vom „Jüdischen“ und nutzen dieses als Projektion einer eigens erdachten essentialistischen Basis. Besonders in Krisenzeiten – welche in einer kapitalistischen Wirtschaftsweise Konjunktur haben – dienen Sündenböcke als vereinfachte Erklärung für gesellschaftliche Prozesse. Der zugeschriebenen Gruppe werden negativ-moralisierende Attribute wie „mächtig“ und „bösartig“ attestiert, da sonst die Lenkung weltpolitischer Geschehnisse nicht möglich wäre. Dem „Jüdischen“ wird dabei eine vermeintliche Macht zugesprochen, während man sich selbst als Opfer betrachtet.
Diese Zuschreibung hat historische Hintergründe im Antijudaismus des Mittelalters, besonders im Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“. Die Artikulationsformen dieses Mythos wurden stetig an aktuelle gesellschaftliche Umstände und Normen angepasst und entwickelten sich so über Jahrhunderte. Antisemitismus ist mit einem Verschwörungsglauben verbunden. Nach Karl Popper sind Verschwörungsideologien ein Produkt der Aufklärung, da der Mensch sich das Wissen über Umwelt und Natur aneignen konnte, jedoch das eigene Unbewusstsein nicht verstand. Anders als Popper jedoch annahm, spielte nicht der Marxismus, sondern der akteurszentrierte Liberalismus des Kapitalismus eine tragende Rolle. Es wurden göttliche Mythen durch menschliche Mythen wie „bösartige Männer und Mächte“ ersetzt, anstatt systemorientierte Analysen über soziale Prozesse zu suchen.
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Imperialismus ist nicht der moralisch verworfene Charakter, der sich gierig die Welt unter den Nagel reißt, wie es etwa in den antisemitischen Darstellungen der weltumschlingenden Krake suggeriert wird. Vielmehr ist der Imperialismus die logische (und notwendige!) Fortsetzung des Kapitalismus. Kurze Rekapitulation, was Kapitalismus eigentlich bedeutet: Der Kapitalist gewinnt Mehrwert durch die Ausbeutung seiner Arbeiter:innen – den Profit setzt er ein, um daraus mehr Gewinn zu machen und seine Konkurrenten zu übervorteilen. Weil alle theoretisch in der Lage sind, ihre Konkurrenten zu übervorteilen und sie vom Markt zu drängen, sind alle mit Gedeih und Verderb an den Profit gebunden. Aus dieser grundlegenden Notwendigkeit zur Profitschaffung lässt sich weiter die Notwendigkeit staatlicher Herrschaft ableiten. Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist schützt den Ablauf der Marktwirtschaft im eigenen Land, muss dabei Ressourcen sichern und günstige Produktionsbedingungen sicherstellen. Das funktioniert am besten, indem er seinen Markt erweitert. Je reicher und mächtiger ein Land ist, desto höher ist die Chance, sich in diesem ökonomischen Wettbewerb durchzusetzen – und andere Staaten vom Markt zu drängen oder ihre Ressourcen vergünstigt beziehen zu können. Die Wettbewerbslogik setzt sich also zwingend international durch – und bildet so Herrschaft und Unterdrückung heraus.
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Imperialistische Herrschaft reproduziert sich immer selbst. Die herrschenden Staaten beuten Ressourcen in anderen Weltgebieten aus – früher durch die Schaffung von Kolonien, heute werden durch politischen, militärischen und ökonomischen Druck die Interessen der stärkeren Staaten durchgesetzt. Damit können Imperien mehr Profit akkumulieren und (neo-)kolonialisierte Gebiete kleinhalten. Diese können keinen Wohlstand erringen und bleiben abhängig von der Zuwendung von Hilfsgütern (gedankt sei den Spenden an die Hilfswerke). In den abhängigen Gebieten verelenden als Folge die Lohnabhängigen und jene, die nicht einmal mehr das sind – die Surplus-Bevölkerung. Die Infrastruktur und Ökonomie der Länder scheitern daran, auch nur angemessenen Zugang zu Ernährung, Wohnung, Medizin und Bildung herzustellen. Im Gegensatz dazu stehen jene Teile der Bevölkerung, die von der Ausbeutung profitieren und politische und wirtschaftliche Spitzenpositionen einnehmen. Sie setzen in den Ländern ihre Linie durch, um ihre Macht und ihren Einfluss abzusichern – auch gegen Konkurrenten. Diktatur und Krieg hat der Imperialismus häufig im Schlepptau. Anders als im klassischen Imperialismus besitzen die Staaten heute aber ein bestimmtes Maß an Autonomie. Die Zwänge der internationalen Politik grenzen diese Autonomie wiederum ein - es muss sich etwa an internationale Verträge gehalten werden, die sie an die Verpflichtung zu Privateigentum und freier Konkurrenz binden. Sollte sich Widerstand regen, erhalten die Machthaber dieser Staaten auch gern mal militärische Unterstützung zur Wiederherstellung der „freiheitlich-demokratischen Weltordnung“.
Der Zwang, entweder auszubeuten oder ausgebeutet zu werden, lässt Staaten ihre ökonomische, militärische und politische Macht sichern – und das funktioniert am besten, indem man sie ausweitet. Nicht bei jeder militärischen Intervention müssen die Ölressourcen gesucht werden – der reine politische Einfluss in einem Gebiet ist meist Anreiz genug, um die Armeen auszusenden. Je stärker sich etwa eine Krise zuspitzt, desto mehr wollen erfolgreiche imperialistische Staaten ihren Anteil an der Welt sichern – und desto brutaler sind die Folgen für den Rest der Welt. Die Unglückseligen leiden dann an Rassismus, Verelendung, Kriegen und Diktaturen.
Antiimperialismus ist die politische Bewegung, die den Anspruch hat, sich gegen diese eben beschriebenen Formen von Unterdrückung, Herrschaft und Ausbeutung zu richten. Er will einen systematischen Bruch herbeiführen – denn im Gegensatz zu den liberalen Kritiker:innen der USA, BRD & Co, die ihnen unmoralisches Handeln vorwerfen, wissen die Antiimperialist:innen, dass Herrschaft und Elend den Ursprung im Kapitalismus haben. Nur eine revolutionäre Überwindung des Ganzen wird auch den Imperialismus beenden. Soweit haben Antiimperialist:innen auch Recht – aber warum ist das historisch so katastrophal an die Wand gefahren?
Der Antisemitismus und die Fehler des Antiimperialismus
Die Frage nach dem Formzusammenhang zwischen Antiimperialismus und Antisemitismus ist nicht auszublenden. Antiimperialismus als revolutionäre Praxis ist am Scheitern, wenn er nicht gar schon gescheitert ist. Zumindest ist er in seiner jetzigen Form bestenfalls ein antiquiertes Produkt vergangener Kämpfe, im schlimmsten Fall reaktionäre Ideologie, welche die Welt weiter geißelt, anstatt sich um den Anspruch der „Befreiung“ zu bemühen.
Westliche Antiimperialist:innen versuchen sich oberflächlich von den moralisierenden Argumenten liberaler Staatenkritiker:innen abzugrenzen. Aus einer marxistischen Perspektive sollten sie wissen, dass das kapitalistische Wettbewerbssystem eine systematische Zwangslage für die Akteure verschiedener gesellschaftlicher Ebenen darstellt, so auch der geopolitischen. Es handelt sich hierbei häufig jedoch nur um Vulgärkritik und Mitleidsfetisch, der in der Auffassungs- und Analysekraft kaum tiefergehend ist als die liberalen Argumente. Die antiimperialistische Bewegung zeigt hier ihre Unfähigkeit, das abstrakte und widersprüchliche Wettbewerbssystem zu verstehen. Als Folge nimmt ihre Vulgärkritik nicht nur in politischen Äußerungen der Standpunkte eine – wenn auch nicht explizite – Artikulationsform des Antisemitismus an, sondern schon in ihrem theoretischen Konstrukt eines konkret-dualistischen Kapitalismusverständnisses.
Dies ist ein Übertragungsfehler aus der marxistischen Lehre des Klassengegensatzes. Während selbst bei Marx klar wird, dass der Interessenkonflikt der herrschenden Klasse und des Proletariats durch die Charaktermaske einen entpersonalisierten Zwangscharakter des Wertaustausches bekommt, fand schon bei frühen Arbeitskämpfen eine Glorifizierung der Arbeit statt. Anstatt die Arbeit als eine der notwendigsten Waren im Kapitalismus zu begreifen und die Lohnarbeit zu überwinden, wurde im Versuch, den Warenwert der Arbeit zu erhöhen, das Arbeitsverhältnis durch einen identitätsstiftenden Moment naturalisiert. Nebenbei werden andere Konfliktlinien innerhalb der Arbeiterklasse und mögliche Verblendungszusammenhänge ignoriert. Hierbei wurde der moralisierende Dualismus zwischen der „guten/konkreten“ Arbeit und dem „bösen/abstrakten“ Kapital aufgemacht. Das Objekt der Kritik ist in diesem Fall jedoch nicht die Ausbeutungslogik, sondern die entspringenden Charaktermasken, also Produkte des Kapitalismus. Die Konkurrenzzustände des Kapitalismus werden – entgegen der Erwartung der Kritik – damit bestätigt, weil sie als naturgegeben wahrgenommen werden.
Dieser Fehler stößt beim Übertragen auf die geopolitische Ebene im antiimperialistischen Denken auf ein weiteres Problem: die Kategoriebestimmung des Antiimperialismus. Statt des ökonomisch begründeten Klassengegensatzes mit dem entspringenden revolutionären Subjekt des Proleten, entsteht in der antiimperialistischen Logik ein neues revolutionäres Subjekt, das der „unterdrückten Völker“. Diese Simplifizierung bestehender Verhältnisse kann als Niederlage des „Kommunistischen Manifestes“ verstanden werden, da hier nun die bürgerliche Hoheit von Volk und Nation gegenüber dem Proletariat als revolutionäres Subjekt zu verstehen sei. Es muss zugestanden werden, dass der Befreiungskampf vieler Staaten eine Notwendigkeit darstellte, um als Subwelt dem Imperium widerstehen zu können und so das Überleben als eigenes Konkurrenz-Subjekt – wenn auch von imperialer Herrschaft betroffen – in der geopolitischen Ordnung des Wettbewerbssystems zu behaupten.
Der Antiimperialismus im Westen verkommt zu einem bürgerlich-romantisierten Kitsch ohne analytische Schlagkraft. Der gleiche Fehler, der bereits bei der Bestimmung des Proletariats gemacht wurde, wird wiederholt, im katastrophalen Ausmaß. Hierbei werden nicht nur die internen ökonomischen Konfliktlinien des vermeintlichen revolutionären Subjektes ignoriert. Die „unterdrückten Völker“ unterliegen einer Homogenisierung zum „einheitlichen Block“ und jegliche anderweitigen staatlichen Interessen werden ausgeblendet. Statt des Fehlers der Glorifizierung der Arbeit als Ware findet hier der Fehler der Glorifizierung des Staates als kapitalistisches Steuerungsprodukt statt. Dass dem Imperialismus der Zwang inhärent ist, auszubeuten oder ausgebeutet zu werden, wird dabei ignoriert und es wird sich nun doch eben auf moralisierende Argumente berufen. Am greifbarsten ist das beim Mitleidsfetisch westlicher antiimperialistischer Gruppen, die statt ökonomischer und systematischer Argumente und Strategien eine pathetische Pseudomilitanz und (in roten Air Max) den „Volkskrieg“ fordern.
Der Formzusammenhang zwischen Antisemitismus und Antiimperialismus kann auch theoretisch aufgerollt werden: Auch wenn sich der Antisemitismus antiimperialistischer Bewegungen moderater zeigt als zum Beispiel der der völkisch-rassistischen Artikulation, so lässt er sich dennoch mit dem moralistischen Dualismus „guter“ und „böser“ Akteure erklären. Laut Postone wird Antisemitismus durch die Verknüpfung der ökonomischen Sphäre mit einem konkretistischen Weltbild produziert. Die Personifizierung und Moralisierung der ökonomischen Ausbeutung sucht immer nach einem Sündenbock für den aktuellen Zustand der Welt. Diese Dichotomie zeigt sich anhand der Forderung nach Siegen des Blocks „unterdrückter Staaten“ gegenüber den „imperialistischen Staaten“, allen voran den USA. So werden nach wie vor die „jüdisch“ konnotierten Finanzmärkte hinter imperialistischen Aggressionen vermutet, welches im Gegensatz zu den konkreten Produktionskräften in eben jenen „unterdrückten Staaten“ stehe. Klassengegensätze und Staaten als ideeller Gesamtkapitalist kommen in dieser Sichtweise nicht vor. Aufgrund historischer Ressentiments wurden Jüdinnen und Juden als Sündenböcke mit den negativen Erscheinungen des Kapitalismus markiert und die westlichen Antiimperialist:innen identifizieren sich mit den vermeintlichen Opfern eben jenes personifizierten Bösen.
Dass Jüdinnen und Juden als verfolgte Minderheit keinen Schutzstatus in dieser Bewegung finden, ist also Konsequenz und kein Widerspruch. Durch die Konnotation des „Jüdischen“ mit der Macht befänden sich die Antiimperialist:innen im natürlichen Interessengegensatz, auch wenn sie in ihrer Artikulationsform heute bedachter sind und meist antisemitische Codes wie „Zionisten“ verwenden. Der theoretische Hintergrund, dass das „Konkrete“ – ob nun Arbeit oder Volk – dem „Abstrakten“ – Kapital oder Imperium – gegenübersteht, ist auch dem Antiimperialismus inhärent. Das „Jüdische“, ob nun codiert oder nicht, wird hierbei nicht mehr in der naturalisierten Konfliktlinie des Materiellen und Konkreten wahrgenommen, sondern gänzlich auf die Stufe des Abstrakten gebracht. So wird Antisemitismus, falls überhaupt angesprochen, nur als eine Unterart des Rassismus betrachtet. Häufig wird er bagatellisiert und – auch hier wieder – falls überhaupt als Begleiterscheinung anderer Diskriminierungsformen betrachtet. Eine greifbare Verwendung des Begriffs wird aufgrund des theoretischen Unvermögens unterlassen. In der geopolitischen Konstellation ist das besonders an dem Umgang mit Israel zu erkennen.
Israel wird hierbei als Projektionsfläche des gesamten imperialistischen Produktionsbetriebes genutzt. Der Antizionismus ist in diesen Ausmaßen als eine geopolitische Fortführung des Antisemitismus mit anderen Argumenten zu verstehen. So wird lediglich Israel seit dem Sechstagekrieg 1967 eine imperialistische und rassistische Macht attestiert, welche eigentlich jedem – modernen und kapitalistischen - Staat inhärent ist. Gerade weil Israel aufgrund von Größe und Lage kaum allein lebensfähig wäre und aufgrund geostrategischer Interessen Unterstützung der USA bekommt, wird Israel als “imperialistischer Scherge” wahrgenommen. Gesamtimperialistische Ressourcen- und Territorialkonflikte nehmen in der westlichen Debatte über den „Nahost-Konflikt“ wie in keinem anderen Konflikt moralisierende, gar pseudo-religiöse Züge an. Die Vernichtung Israels ist für viele islamische Staaten sowie Linke, Rechte, Bürgerliche – und so weiter – ein politisches Ziel, das es im Westen zu propagieren gilt. Israel sei als abstraktes Staatenkonstrukt eine Gefahr für die organisch gewachsene Staatenwelt und verfolge kein strategisches Interesse im Gesamtimperialismus, sondern sei von Natur aus bösartig, lauten dann solche Argumente. Auch wenn sie häufig rhetorisch schöner verpackt werden, als sich dieser Artikel hier die Mühe machen will.
Der „Nahost-Konflikt“ wird nicht in der BRD entschieden, weder in Kneipe, im AZ und schon gar nicht in universitären Räumen. Ein Glück möge man meinen. Und neben der Theorielinie des moralisierenden Dualismus könnte man den Antiimperialist:innen noch etwas anderes vorwerfen: Die Moralisierung der Kritik Israels um die Diskriminierung von Jüdinnen und Juden zu legitimieren. Auch wenn vehement bestritten, findet eine Gleichsetzung des jüdischen Kollektivs mit Israel statt, es gibt hier auch einen Formzusammenhang. Falls antisemitische Ausschweifungen von islamistischer Seite oder anlässlich einer in Israel stattgefundenen Handlung stattfinden, werden viele Handlungen bagatellisiert oder es werden vermeintlich antiimperialistische gegenüber antisemitischen Motiven betont. Dass diese Angriffe überdurchschnittlich häufig Jüdinnen und Juden treffen, wird dabei hingenommen. Gar waren Angriffe auf Synagogen zu den Höhepunkten des deutschen Antiimperialismus keine Seltenheit. Oder man betrachte die „Operation Entebbe“ 1976, eine Flugzeugentführung, bei der die Geiselnehmer:innen der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ und Vertreter:innen der Revolutionären Zellen unter dem Deckmantel des antiimperialistischen Kampfes zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Zivilist:innen unterschieden. Die deutsche Linke versuchte erst später, ihr Verhältnis demgegenüber zu klären.
Der linke Michel wandte sich nach 1967 von der Solidarität mit Israel ab, weil Israel schließlich der Sieger des Sechstagekrieges war. Der Mitleidsfetisch zeigte in diesem Fall deutlich, dass es nicht um die Überwindung imperialistischer Aggressionen ging, sondern um Solidarität mit dem Verlierer. Eine Bewegung, die sich immer nur mit dem Mitleid und dem Verlierer identifiziert, kann unmöglich eine Überwindung des aktuellen gesellschaftlichen Zustandes anstreben. Genauso wenig, wie die moralisch überhöhten Schreiberlinge sektiererischer Kleinstgruppen und Magazine.
Eine negative Theorie des Antiimperialismus würde eventuell diese Rolle erfüllen: den Spagat zwischen geopolitischem Verständnis, Überwindung des Systems und Organisation im Sinne der internationalen Solidarität, unter Einbezug jüdischer Emanzipation. Frei von antiquierten Kämpfen und Glorifizierung der „unterdrückten Völker“ auf der einen und frei von einer Stilisierung des Hegemons im aktuellen gesamtimperialistischen Gebilde zum neuen revolutionären Subjekt.
Der neue Antiimperialismus zwischen Theorie und Praxis
„In der Arbeiterbewegung und besonders, wie ich glaube, in der Revolution, gibt es nur eine Probe aufs Exempel – das Beispiel selbst, die Tat.“ – Hermann Gorter (1920)
Wir stehen vor den Scherben des Antiimperialismus. Statt eine revolutionäre Theorie aufzuweisen, glitt die Bewegung in eine verkitschte Darstellung der „Dritten Welt“ und reaktionärer Ideologie – namentlich des Antisemitismus – ab. Der erste Reflex wäre, die ganze Sache auf den Müllhaufen der gescheiterten linken Befreiungsversuche zu werfen. Wie es Antideutsche in den 1990er Jahren getan haben. Es würde bedeuten, die theoretischen Erkenntnisse unseres Artikels für eine vereinfachte Lösung des Problems zu verwerfen und eine theoretische Analyse des Imperialismus zu unterlassen. Ein solcher Ansatz muss aber für eine Linke notwendig scheitern – die Herrschaft des Kapitals ist global, so muss auch die Theorie und die Praxis gegen sie global sein.
Die Ergebnisse unserer Analyse des Antisemitismus müssen auf die geopolitische Ebene übertragen werden. Die Grundlagen der Staatskritik treffen eben alle Staaten und nicht nur Israel – jeder Staat nutzt alle Chancen, um seinen Einflussbereich auszuweiten. Eine einseitige Fokussierung auf „das moralisch schlechte“ Israel blendet damit eine wesentliche Funktionsweise des Imperialismus grundsätzlich aus. Die Grundlage der globalen Unterdrückung wird dann nicht mehr in der Funktionsweise des Kapitalismus gefunden, sondern im „Juden“, der heimlich die Stricke im Hintergrund zieht.
Zweitens muss von einer Identifikation mit den unterdrückten Völkern Abstand genommen werden. Von Vietnam 1968 zu Palästina in den 1970ern und später Kurdistan wurde „das Volk“ als einheitliches Konzept zu einem revolutionären Subjekt erhoben, idealisiert und glorifiziert – eine Kritik an Nation, Staat, Klassengesellschaft und Volk fand nie statt. Stattdessen galt es, „das Volk“ ohne Klassengegensatz als die Guten zu unterstützen, um gegen „die bösen“ imperialistischen Staaten als einheitlichen Block zu siegen. Dieser simple Antagonismus, bereinigt von jeglicher Dialektik – dass etwa aus dem Kampf gegen Unterdrückung neue Formen der Repression entstehen können – fand seinen notwendigen Ausgang nach dem Sechs-Tage-Krieg, als sich die Linke geschlossen gegen die Israelis stellte. Dem Mitleidsfetisch und einer bürgerlichen Verkitschung von Volk und Nation sollte eine kritische Reflexion der Situation entgegengestellt werden. Das schließt internationale Solidarität nicht aus, aber die pathetische Lächerlichkeit, wenn der deutsche Michel ruft: „Heilig sind die Märtyrer“, müsste nun doch endlich mal fallengelassen werden.
Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks, gefolgt vom Zusammenbruch der linken Bewegung weltweit, war auch dann ersichtlich, dass der Antiimperialismus in seiner alten Form gescheitert war. Der verkitschte Antiimperialismus mit allem, was bisher kritisiert wurde, war aus der Zeit gefallen und konnte nicht mehr die Antworten auf die neuen Verhältnisse des post-sowjetischen Imperialismus des 21. Jahrhunderts liefern. In der Bundesrepublik lebte er nur noch fort als Karneval der Stalinist:innen oder als theoretischer Strohmann, an dem sich Antideutsche abarbeiteten. Auch in anderen Ländern gelang es nicht, den Antiimperialismus den neuen Erfordernissen einer post-sowjetischen Weltordnung entsprechend zu aktualisieren.
Auch jetzt, in der aktuellen Situation einer völligen Bedeutungslosigkeit der Linken, wird ein konstruktiver Vorschlag für einen neuen Antiimperialismus, ein praktisches Programm zur Revolution, immer ein wenig der Lächerlichkeit preisgegeben.
So sollte in Rückbesinnung darauf, dass der Feind im eigenen Land steht, die politische Rolle Deutschlands im kapitalistischen Weltgefüge analysiert werden. Eine politische Ortsbestimmung sollte grundlegend für die organisatorische Aktivität sein: die Rolle der EU, die BRD als politische Akteurin auf der Weltbühne, die Integration weiter Teile der Arbeiter:innen, die Militarisierung der Polizei bilden einige Eckpunkte.
Zusammen damit sollten Fragen zu den globalen Verhältnissen gestellt werden, die verknüpft werden müssen mit der Kritik an der BRD. Was bedeutet Globalisierung im 21. Jahrhundert? Wie bilden Klimakollaps, Krieg und Pandemie den historischen Hintergrund des kommenden Klassenkampfes?
„Schaffen wir zwei, drei, viele Ever Given!“
Joshua Clover formuliert etwa in seinem Buch zur materialistischen Analyse des Riots Gedanken zur Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft seit 1973: Die ursprüngliche Art der Produktion ist an ihr Ende gekommen. Die Tendenz des Kapitals, lebendige Arbeit (Arbeitskraft) durch tote Arbeit (Maschinen, etc.) zu ersetzen, um die Konkurrenz zu übertrumpfen, hat auch den Nebeneffekt, dass die Profitrate sinkt. Einige Unternehmen verlagern nun ihre Investition in die Zirkulation – also Transport, Logistik oder Dienstleistungen etwa – um dort weiterhin Gewinne machen zu können – müssen aber notwendigerweise scheitern, da Profit eben nur durch die Ausbeutung der Arbeitskraft generiert werden kann. Denn Imperialismus heißt: Die globale Zirkulation der Waren ist der Puls des Kapitals.
Auch Jasper Bernes widmet sich der Frage der Zirkulation in seinem Aufsatz „Logistics, Counterlogistics and the Communist Prospect“. Marx‘ Argumentation in den „Grundrissen“ folgend, beschreibt er, wie das Kapital beständig versucht, die Strecke zwischen der Produktion der Ware und dem Auftritt der Ware auf dem Markt zu verkürzen. Der physische Raum muss so weit wie möglich überwunden werden, um die Profitgenerierung zu beschleunigen. Die Zirkulation der Waren wird durch technische Innovation und Digitalisierung immer schneller und flexibler. Wurden früher riesige Lagerhallen bestückt, regiert heute die Just-In-Time-Produktion. Geschwindigkeit, Effizienz und Timing spielen eine zentralere Rolle denn je. In der modernen Logistik findet diese Zirkulation ihren Ausdruck. Es ist eine Geschwindigkeitsspirale, aus der das Kapital keinen Ausweg mehr finden kann.
Wer als Erstes nachlässt, gibt beträchtliche Anteile an Gewinn auf und ist verurteilt, in der Konkurrenz unterzugehen. Die Effizienz schlägt alles. Wer sich nicht der logistischen Umstrukturierung anpassen kann, geht unter. Das betrifft nicht nur konkurrierende Unternehmen, sondern auch die Staaten, die sich diesen Bedingungen anpassen müssen und die Märkte und Transportwege aufrechterhalten müssen. Aber vor allem das Klima und die von der Arbeit abhängige Bevölkerung sind die Leidtragenden. Es geht darum, Waren möglichst schnell von einem Ort zu einem anderen zu bringen – es ist selten die ökologischste Route, eher im Gegenteil. Die Arbeiter:innenklasse zersplittert sich. Viele Arbeitsplätze ziehen fort aus einem Land in neue, billigere Gegenden in anderen Ländern, Arbeitsverhältnisse werden prekärer und unsicherer. Weder in den westlichen Staaten noch in den Staaten, die in die globale Peripherie gedrängt worden sind, gibt es Auswege aus der Prekarität. Die Surplus-Bevölkerung – diejenigen, die Arbeit brauchen und keine finden – wird größer, ohne Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Aber die Vernichtung des Raums für das Kapital heißt auch eine Auflösung des Raums für die unteren Klassen. Die Bilder der kollektiven Kämpfe, die über die Bildschirme flackern und den Zorn auf die staatliche Gewalt bezeugen, sind gleich, egal ob sie aus Europa, den Amerikas oder dem Arabischen Frühling stammen. Auch finden sich in allen Protesten Blockaden infrastruktureller Routen wieder. Ist das der kollektive Ansatz, aus dem heraus sich der moderne Antiimperialismus entwickelt? Ein Antiimperialismus, der Klimaschutz und Klassenkampf verbinden kann? Ist der Ort des Antiimperialismus der Hafen?
„Imagine if our blockaders knew exactly which commodities the containers at particular berths, or on particular ships, contained; imagine if they could learn about the origin and destination of these commodities and calculate the possible effects — functionally and in dollars — of delays or interruptions in particular flows. Possession of such a counterlogistical system, which might be as crude as a written inventory, would allow antagonists to focus their attention where it would be most effective.“
Die Totalität der Logistik ordnet die herrschenden Verhältnisse – und lässt die Zirkulation zur wichtigsten und verwundbarsten Stelle des Systems werden. Imperialismus heißt: Im Namen des Profits und der Machtsicherung werden Großteile der Bevölkerung ins Elend geworfen und der Klimakollaps wird beschleunigt. Und was heißt nun Antiimperialismus? Das Problem der andauernden Krise des Endzeitkapitalismus löst sich nur in der Radikalität von Wort und Tat auf. Und damit meinen wir Radikalität im wahren Sinne: eine Analyse, die das Problem an ihren Wurzeln greift. In Anbetracht des kommenden Klimakollapses, der ausbrechenden Krisen und des verschärften Klassenkampfes weltweit ist eine antiimperialistische Theoriebildung absolut notwendig. Sonst drohen die emanzipatorischen Bewegungen für immer zu verschwinden.