Schnipsel aus dem Unibetrieb // NC-UHH #3
15. Mai 2023, von EK
Die „Schnipsel aus dem Unibetrieb“ sollen in kurzer Form studentische Erfahrungen mit dem bestehenden Unibetrieb gesellschaftskritisch reflektieren. Ob die prekäre soziale Lage des Studierendendaseins, ideologische Lehrinhalte, Standesdünkel von Professor:innen, Diskussionen im Seminar – Anlässe dies zu tun bietet der Studienalltag viele. Wenn ihr etwas beitragen möchtet: Uns freuen vor allem Beiträge, die weniger Einzelnes skandalisieren, sondern vielmehr am Einzelnen den Skandal des Ganzen aufzeigen. Schickt uns eure Beitrags-Ideen (bis 2.500 Zeichen) gern an: new.critique@asta.uni-hamburg.de |
A Mind So Open the Brain Fell Out
„Amerika ist kulturlos. Ich empfinde Ekel, wenn ich daran denke.“ Die Studenten der Uni Hamburg sind angetreten, um den Ruf des Lumpenproletariats zu retten. Sie übertreffen die als besonders bigott (weil „bildungsfern“) verschriehenen Schichten in puncto Ignoranz bei weitem. „Ich verbinde vor allem Materialismus und Kapitalismus mit Amerika.“ Glücklicherweise haben es diese Erbsünden noch nicht zu uns geschafft. Hamburg mag das Tor zur Welt sein, aber für amerikanischen Schund bleibt das Tor hoffentlich verriegelt. „Wenn ich an Amerika denke, denke ich an Genozid“, ergänzt eine Kommilitonin. Besonders entrüstet wurde die Stimmung in dieser Seminardiskussion zum Thema Amerika, als es darum ging, wie „schlecht die amerikanische Erinnerungskultur“ im Vergleich zur vorbildlichen deutschen aufgestellt ist. Diese intellektuellen Hamburger des weltoffenen Milieus können auf akademisch hohem Niveau begründen, wieso sie Deutschland dem Rest der Welt so entschieden vorziehen, wie das alle weniger gebildeten Deutschen auch tun. Es ist wegen Auschwitz, äh, wegen des wunderbaren Gedenkens daran natürlich. Die Ressentiments, die die Verbrechen von damals ermöglichten, werden neu aufgewärmt im Namen des ehrenwerten Gedenkens an sie. Das kommt sicherlich nicht nur von Geisteswissenschaftlern, diese werden jedoch speziell ausgebildet für solcherart ideologische Mentalgymnastik. Nicht mit Deutschland, sondern mit Amerika soll man Genozid assoziieren: Dafür wird dieser postkoloniale Nachwuchs der Ideologiefabriken sorgen, wenn er es zu einer Karriere im Meinungsmachen bringt. Das Seminar war voller junger Leute unter 25. Eben jene, über die die Studie „Postmigrantisch II“ 2015 feststellte, dass 77,9 % von ihnen gerne sagen: „Ich liebe Deutschland“. Denn „Junge Nationalisten“ gibt es nicht nur bei der NPD. Sind die Äußerungen antiamerikanisch, haben sie gar eine antisemitische Schlagseite, Herr Professor? „Das Amerikabild muss man differenzierter sehen.“ Achso.
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Die Literatur ist kein Insekt, der Student vielleicht schon
Terry Eagleton erkannte gesellschaftliche Widersprüche in der Literatur. Studenten sehen in ihr nur sich selbst.
Der Unibetrieb ist dadurch gekennzeichnet, dass alles, was einmal in kritischer Absicht gegen diese Gesellschaft zu Papier gebracht wurde, heute zu ihrer Rechtfertigung benutzt wird. Marx brachte uns die Soziologie und die SPD, Freud lehrte uns #MentalHealthAwareness und Adorno verdanken wir die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Die vehemente Gegnerschaft zur bis heute fort wesenden Gesellschaft, vor der ihre Polemiken sprühen, wird bei einer Seminarlektüre der kanonisierten Texte stillgelegt. Der kritische Erfahrungsgehalt bleibt unverstanden von borniert auf sich selbst fokussierten Studenten, wie sich anhand der Form der Seminare belegen lässt und durch tägliche Erfahrung in der Uni bestätigt wird.
Was passiert denn, wenn man beim Lesen eines Textes bereits auf Diskussionsbeiträge im gesellig-locker-flockigen Seminar schielt? Im Folgenden eine Fallstudie. In seinem Text „What is Literature?“ stellt der Marxist Terry Eagleton fest, dass Literatur zwar in vielen Formen von Sprache gefunden werden kann und unmöglich als etwas Statisches, etwas einem Insekt ähnlichen, definiert werden kann. Stattdessen ist Literatur ein soziales Verhältnis, eine Art und Weise, wie sich Menschen auf Geschriebenes beziehen, die bestimmt ist von Ideologie. Also notwendig falsches Bewusstsein, das Herrschaftsverhältnisse stützt. Nach der Lektüre des Essays kommen heutige Studenten jedoch zu dem Schluss, dass Eagleton damit meint, Literatur könne alles sein und es komme bei ihrer Definition auf den freien Willen und Geschmack des Lesers an. Sie missverstehen, dass Eagleton bloß die Fallstricke aufzeigt, die sich bei einer rigide geschichtslosen, „festen“ Definition ergeben. Sie tragen ihre eigenen postmodernen Bedürfnisse eines losgelassenen Subjektivismus an den Text heran und verfallen einer ideologischen Interpretation, wie sie Eagleton selbst im Text kritisiert.
So ist das Rätsel gelöst, wie es sein kann, dass ein marxistischer Text zum einschlägigen Klassiker für literaturwissenschaftliche Einführungsseminare geworden ist, der von Professorinnen unterschiedlichster politischer Strömungen gerne verwendet wird. Denn sie können mit den falschen Assoziationen der Studenten rechnen. Zensur des Marxismus ist überholt; man muss nur zu seiner Interpretation aufrufen und den Rest erledigt der postmoderne Zeitgeist.