Zum Opfer erzogen // NC-UHH #2Zur Gewalt von Geschlechterrollen und Grooming
15. Februar 2022, von junus h.
Wieso sagen wir nicht Nein? Wenn die Erfahrungen „nicht so schlimm“ waren wie die anderer Missbrauchsüberlebender, wieso machen sie uns so krank? Wer ist dafür verantwortlich, was passiert ist? Ein paar persönliche Erfahrungen und Gedanken.
Es ist 2021. Ich sitze im Park. Um mich herum meine Mitbewohner:innen. Ich heule.
Wir reden über Kindesmissbrauch. Ich mag nicht sagen, dass ich Überlebend* bin. Auch, weil ich nicht weiß, ob mein Fall in ihren Augen „zählt“. Ich weiß, dass es so ist. Jemand von ihnen legt nach, mit einer stichigen Bemerkung. Ich muss es sagen.
Es ist 2021 und ich oute mich als Mensch, der Kindesmissbrauch erlitten hat, um Verständnis dafür zu bekommen, dass ich nicht lang und breit darüber philosophieren will, was in den Köpfen von pädophilen Menschen vorgeht. Ich muss meine Gefühle relativieren und klarstellen, dass ich weiß, dass A nicht gleich B ist.
Es ist 2009. Ich bin 10 Jahre alt und habe gerade das erste Mal meine Tage bekommen. Ich bin über 1,70 Meter und in der sechsten Klasse. Ich hatte zwei Tage lang so dolle Bauchschmerzen, dass ich um mein Leben gebangt hatte, so jung und naiv, wie ich war. Meine Mutter strahlt mich an, schaut auf meinen ruinierten Lieblingsschlafanzug und meint, dass ich jetzt eine Frau wäre. Sie ist Feministin. Sie kauft mir einen Eisbecher.
Es ist 2011. Ich bin gerade so 13 und finde, dass ich so langsam mal einen Freund haben müsste. Das ist nicht so einfach, denn die Jungs, die ich kenne, sind mir alle nicht gewachsen; ich bin doch so reif, das weiß ich, das sagen alle, meine Eltern, meine Lehrer:innen, die 18-jährigen Jungs, die ich auf einem Konzert kennenlerne. Ich sehe gar nicht aus wie 13, mindestens wie 16. Und vom Kopf her sei ich sowieso haushoch überlegen, sagen sie, sagen alle. Meine Klassenkameradinnen erzählen sich, dass Mädchen sich im Schnitt zwei Jahre älter verhalten als ihre männlichen Peers, und ziehen daraus ein Überlegenheitsgefühl. Und ein herablassendes Verständnis für die Albernheit der Jungs. Ich darf nicht albern sein, ich bin kein Junge. Ich tue es trotzdem. Ich bin komisch, das ist etabliert, einen sozialen Stand habe ich in der Schule nicht. Ich bin nicht wie die anderen Mädchen. Ich versuche, diesen Satz stolz zu denken und nicht verwirrt.
Es ist 2012. Ich hatte drei verschiedene Freunde bisher und das Jahr ist halb rum. Der jüngste von ihnen zwei Jahre älter als ich. Mädchen sind ihren männlichen Peers zwei Jahre voraus, denke ich, also quasi auf Augenhöhe. Ich will keinen Sex, aber das weiß ich nicht. Ich denke, ich möchte mich für den Richtigen aufbewahren. Ich müsste eigentlich mal zur Gynäkologin, ich weiß, was HPV ist. Ich denke an Gynäkologie und bekomme panische Angst. Ich denke nicht weiter darüber nach.
Meine Mutter nennt mich eine femme fatale, weil ich so oft den Mann, naja, eher den Jungen wechsle. Aber ich würde das ja sehr ehrlich machen, meint sie, daran sei nichts verwerflich. Ich bin erstaunt, dass es verwerflich hätte sein können. Ich habe wieder etwas gelernt.
Es ist 2014. Meine letzte Beziehung, mit einem acht Jahre älteren Mann, habe ich gerade nach einem Jahr beendet. Ich habe das Gefühl, meiner emotionalen Pflicht ihm gegenüber nicht nachgekommen zu sein – er ist mir unterlegen, das haben mir alle erzählt, er ist mir unterlegen, er braucht meine Hilfe, emotional mitzukommen, ich muss ihn versorgen, eine Freundin versorgt ihren Freund. Er hat eine kleine Nichte, sie ist anderthalb, er findet, ich sehe gut aus mit ihr auf dem Arm. Seine Mutter fragt mich, wann ich ihn heirate. Ich bin 15.
Er möchte so gerne mit mir schlafen. Ich komme ihm entgegen, eine Freundin schuldet das ihrem Freund, wir experimentieren ein bisschen, aber weit kommen wir nicht. Ich fühle mich nicht bereit. Er ist geduldig, aber ich mache Schluss, bevor irgendwas passieren kann.
Es ist 2015. Ich habe Abitur gemacht, mit 17, ich bin nämlich so schlau und weit und reif für mein Alter, dass ich 17 bin, sieht man mir nicht an. Ich trage die Haare jetzt lang und ungefärbt, das gefällt meinem neuen Freund besser. Er ist 27. Ich wohne bei ihm, weil ich in der Stadt, in der ich studiere, noch kein Zimmer gefunden habe, das ist schwer, unter 18, in einem anderen Land, aber ich bin so weit und reif, es wäre eine Verschwendung, in Deutschland zu studieren. Er findet, ich bin so viel schlauer und reifer als er, ich muss geduldig mit ihm und seinen unterentwickelten männlichen Gefühlen sein. Er küsst mich und zieht mich aus, meint, dass er mich nicht ausnutzen will, macht weiter. Ich denke, ja, ich mach es richtig. Ich schaff es. Endlich. Und irgendwie unterdrücke ich den Impuls, ihn wegzudrücken, schlucke das Nein in meinem Hals runter, ich will eine gute Freundin sein, und gute Freundinnen sagen nicht Nein. Ich bin 17.
Als ich nach zwei Monaten ein einzugbereites Zimmer habe, weint er und sagt, dass er mich nicht gehen lassen will. Ich wohne bei ihm mit einer Reisetasche, die in seinem Schrank versteckt ist, er darf eigentlich niemand anderes dort haben. Er weint und sagt, er hat Angst, mich zu verlieren. Ich verspreche ihm, dass er mich nicht verlieren wird. Ich bleibe.
Nach sechs Wochen schaffe ich es, mit ihm den Kompromiss zu vereinbaren, den er akzeptiert. Die nächsten zwei Jahre komme ich jedes Wochenende in seinen Wohnort, bleibe bei ihm. Ich finde keine Freund:innen, weil ich bei nichts dabei sein kann, aber er weint, also fahre ich jedes Mal wieder zu ihm. Ich bin so viel reifer als er, dieser siebenundzwanzigjährige Mann. Ich komme wieder. Morgens verlasse ich das Bett nicht, weil er quengelt wie ein Kind, wenn ich vom Klo wiederkomme und er nicht wusste, wo ich war. Ich werde traurig, werde antriebslos. Ich bin so viel weiter und reifer als er.
Es ist 2015. Ich komme heulend vom Klo. Er ist positiv, sage ich. Wenn du es behältst, bezahl ich dir Unterhalt, aber dann ist es aus mit uns, sagt er. Als ob das eine Option gewesen wäre. Ich heule und heule und heule. Da ist etwas in mir, was dort nicht sein sollte. Mir wird übel. Ich esse fast nichts, eine Woche lang. Die Tabletten spülen es raus. Der Arzt musste mit Gewalt den Ultraschall einführen, weil meine Muskeln so verkrampft sind. Das wird normal sein, denke ich, sonst würde er etwas sagen. Ich beherrsche die Sprache dort noch nicht gut, darum ist mein Freund bei allem dabei. Die 12 Stunden, über die ich die Tabletten nehmen muss, sind die größten Schmerzen meines Lebens. Ich schreie und winde mich und kotze. Ich gehe am Tag danach zur Uni. Mein Freund will mich morgens nicht loslassen. Im Seminar bekomme ich Nasenbluten, es hört für eine knappe Stunde nicht auf. Ich muss heulen, ich zittere, ich kann kaum sprechen. Der Hausarzt meint, das ist kein Wunder, das komme vom Stress, da könne man nichts machen, außer Stress reduzieren. Verschreibt mir weiter die Pille. Meine Krankenkasse zahlt im Ausland keine Psychotherapie. Die psychologische Beratung an der Uni empfiehlt mir, weniger Freizeitaktivitäten zu machen, um mehr Zeit für meine Unisachen zu haben, und zu meditieren, es gebe da einen hervorragenden Onlinedienst, sehr günstiges Monatsabo. Am Wochenende fahre ich zu meinem Freund. Er versteht nicht, wieso ich keine Lust auf Sex habe, er fleht mich an, wie so oft, er lässt nicht locker. Eine gute Freundin gibt ihrem Freund, was er möchte. Und er sagt doch so lieb bitte.
Es ist 2017. In meinem vierten Semester muss ich die Regelstudienzeit aufgeben. Bisher sind die Zusammenbrüche hinter meiner Zimmertür geblieben, in meinem Wohnheim, wo ich mit fast niemandem rede. Die Jungs, die sich um mich gesorgt haben, sind ausgezogen. Die Jungs, die jetzt dort wohnen, gucken mich komisch an. Ich bin reifer als sie, denke ich. Dann fangen die Panikattacken an, das Studium einzuschränken, und erst da empfinde ich es als ernst, nichts darf meinen Erfolg einschränken. Ich bin schlau und fürsorglich, mehr Qualitäten habe ich nicht. Mein Freund schmeißt eine volle, heiße Pfanne nach mir, weil seine Hüfte wehtut und ich ihm helfen will. Ich bin weiter, denke ich, während ich hinter verriegelter Tür auf dem Badezimmerboden kauere und heule, ich muss Verständnis haben. Eine Freundin versorgt ihren Freund. Wer bin ich ohne ihn?
Es ist 2017. Ich bin zurück nach Hause gekommen, weil ich Psychotherapie brauche. Sonst könne ich ihn nicht unterstützen, sage ich meinem weinenden Freund. Sonst müsste er mich tragen, und er kann doch nicht mal sich selbst tragen. Er lässt mich gehen, aber ich fahre ihn besuchen, einmal im Monat. Zu mir kommt er fast nie, er mag die Stadt nicht, sagt er.
Es ist 2018. Ich muss bleiben. Das sagt meine Therapeutin, das sagen meine Heulkrämpfe, die ich nach der Therapie habe. Das sagt der Panikanfall, der mir in der Uni die Luft abgeschnürt hat. Ich gehe nicht mehr dorthin. Meine Klugheit entfällt. Ich bin nur noch fürsorglich, und das Objekt meiner Fürsorge ist weit weg. Zu meiner Fürsorgepflicht gehören sexuelle Dienste mit vorgetäuschtem Enthusiasmus, aber egal was ich tue, meine Muskeln verkrampfen, wenn wir es versuchen, mir wird übel, ich bekomme Angst, die Luft wird mir knapp, ich habe Schmerzen – er weint, wenn ich nein sage. Ich bin nur noch fürsorglich, und in der Fürsorge versage ich. Wer bin ich noch?
Es ist 2019. Ich bin keine Frau. So viele Dinge machen jetzt Sinn. Die Angst vor der Gynäkologin. Mein dauerhaftes Anecken in allen Geschlechtergruppen. Meine Depression, und dass sie zeitgleich mit der Pubertät eingesetzt hat. Dass Dinge, die für andere unangenehm gewesen wären, für mich der innerste Kreis der Hölle waren. Und es immer noch sind, in meinen Albträumen, oder wenn ich die Augen schließe. Ich trenne mich von ihm, weil ich ihn nicht mehr tragen kann. Ich bin gescheitert. Ich bin keine Frau, aber ich war doch seine Freundin, und eine Freundin versorgt. Ich bin so viel weiter als er. Ich muss das halten, ich muss es alles halten, erhalten, aushalten, aufrechterhalten. Ich kann nicht.
Es ist 2021. Ich sitze im Park und heule. Ich bin ein Mann, oder zumindest sollen die meisten Leute das denken, weil sie das Wort „nichtbinär“ nicht verstehen würden. Ich traue mich nicht, etwas zu sagen. Ich muss.
Ich wurde missbraucht, sage ich. Schluchze ich. Aber du hast doch damals nichts dagegen gesagt, sagt die Stimme in meinem Kopf. Ich weiß, dass Feminismus nicht so funktioniert. Ich schlucke. Ich war nicht konsensfähig, und ich wurde ausgenutzt, sage ich, zu mir selbst so sehr wie zu ihnen. Ich war körperlich erwachsen, aber ich war noch ein Kind, ich war doch noch ein Kind. Mit 13, mit 15, mit 17.
Bedrücktes Schweigen. Was sie sich wohl vorstellen. Sicherlich nicht, was passiert ist. Sie denken an einzelne Nächte, verzogene Mienen, zusammengepresste Augen im Bett. Ich denke an seinen Frust und seine Mitleidhascherei, weil ich mich nicht getraut habe, ihm zu sagen, dass ich nicht will; und wie ich denke, ich will doch nie, aber das kann ich dir nicht antun, eine Freundin muss ihren Freund begehren. Ich denke an seine Tränen. Ich denke an sein Festklammern. Ich denke an sein Flehen. Ich denke an Lob. Ich denke an meinen Schwimmunterricht in der siebten Klasse, ich sitze am Beckenrand, weil ich blute. Mein Lehrer glaubt mir und dem Zettel von meiner Mutter nicht, ich bekomme eine vier. Ich denke an meine beste Freundin, die mir erzählt, wie sie mit ihrem 15 Jahre älteren Freund geschlafen hat, ich bin in der achten Klasse. Ich bin 13 und küsse einen Jungen, weil er angefangen hat. Ich bin 17 und verstehe nicht, warum ich heulen muss, wenn ich in den Zug zu meinem Freund steige. Ich bin acht und höre meiner Lehrerin zu, die sagt, dass ich meinen Klassenkameraden nicht hauen darf, weil ich so viel weiter und reifer sei als er. Ich bin 10, und meine Mutter kauft mir einen Eisbecher, weil ich eine Frau geworden bin.
Info: Grooming (englisch: anbahnen, vorbereiten) ist der Fachbegriff für unterschiedliche Handlungen, die einen sexuellen Missbrauch vorbereiten. Er bezeichnet das strategische Vorgehen von Tätern und Täterinnen gegenüber Mädchen und Jungen: Sie suchen den Kontakt, gewinnen ihr Vertrauen, manipulieren ihre Wahrnehmung, verstricken sie in Abhängigkeit und sorgen dafür, dass sie sich niemandem anvertrauen. - Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs