Suicide of the author // NC-UHH #2Eine sozialistische Perspektive auf den Tod Klaus Manns und das Thema Suizid
14. Februar 2022, von Joe Heck
Die Frage danach, ob Suizid ein Mittel des sozialistischen Widerstands sein kann, möchte mensch gerne humanistisch verneinen. Doch wenn Suizid aus eigenem Antrieb als Widerstand verstanden werden möchte, wird aus dieser Position ein moralisches Problem. Wie ist es unter einen Hut zu bringen, ein selbstbestimmtes Framing dieser Art ernst zu nehmen und den Selbstmord zu gleich nicht als politisches Mittel zu verherrlichen? Die sozialistische Praxis benötigt eine Sprache für die Momente, in denen Selbstmord gezwungenermaßen ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rückt.
Zwei Wochen nach seinem Selbstmord rief Klaus Mann dazu auf, ihm kollektiv nachzufolgen. Dazu lädt zumindest eine Passage ein, die sich als Schlusswort eines lebendigen, von pathetischer Verve strotzenden Textes befindet, dessen posthume Veröffentlichung 1949 Manns Schwester und Leidensgenossin Erika ersann. Der Titel des Essays, „Die Heimsuchung des europäischen Geistes“, drückt bereits – ob er jetzt der Feder von Erika Mann oder der von Klaus entsprang, sei dahingestellt – mit kräftiger Ambiguität die dem Text anhaftenden Stigmata aus. Zum einen schrieb Mann einen gewaltigen Rundumschlag gegen die europäische Intelligenzija, einen mit den kontinuierlich nach dem Zweiten Weltkrieg weitergeführten alten Konflikten und Positionen abrechnenden Kraftakt; leicht säuerlich-verbittert, aber mit argumentativer Stärke – eine Heimsuchung der Fehler im europäischen Geist. Zum anderen gerät mensch als Leser:in durchaus ins Stocken, wenn mensch im Text Manns dessen Wunden erblickt. Am Ende macht Mann das Heimgesucht-Werden vom europäischen Geist zu einem Framing für seinen eigenen Selbstmord, was auszusprechen er einem jungen Studenten in Uppsala in den Mund legt:
Und er sagte: „Eine neue europäische Bewegung sollen sie ins Leben rufen, die europäischen Intellektuellen, eine Bewegung der Verzweiflung, die Rebellion der Hoffnungslosen. Statt des sinnlosen Versuches, „die Macht“ zu „appeasen“; anstatt habgierige Bankiers und herrschsüchtige Bürokraten zu verteidigen und ihren Machenschaften Vorschub zu leisten, sollten wir laut und deutlich protestieren und unserer Bitterkeit, unserem Entsetzen den unmißverständlichsten [sic!] Ausdruck zu verleihen. Wir sind an einem Punkte angelangt, wo nur die dramatischste, die äußerste Geste noch irgend Aussicht hat, bemerkt zu werden und den blinden, hypnotisierten Massen ins Gesicht zu reden.“ Und er sagte: „Hunderte, ja Tausende von Intellektuellen sollen tun, was Virginia Woolf, Ernst Toller, Stefan Zweig, Jan Masaryk getan haben. Eine Selbstmordwelle, der die hervorragendsten, gefeiertsten Geister zum Opfer fielen, würde die Völker aufschrecken aus ihrer Lethargie, so daß sie den tödlichen Ernst der Heimsuchung begriffen, die der Mensch über sich gebracht hat durch seine Dummheit und Selbstsucht“. Und er sagte mit einer Stimme, die nicht mehr ganz sicher war: „Der absoluten Verzweiflung sollten wir uns überlassen. Nur das wäre ehrlich und nur das könnte uns helfen.“ 1
„Und die Schlacht der Ideologien läuft weiter“2 – Klaus Manns Mittel der Wahl ist, so wird mit Härte impliziert, der Selbstmord. Nun war Klaus Mann mit Bestimmtheit kein Sozialist, allerhöchstens ein leicht romantisierender liberaler Utopist, dennoch wirft der zitierte Absatz einige philosophische Fragen auf, die auch aus einer sozialistischen Perspektive von Bedeutung sind - immerhin verstand sich Mann in der Position eines Widerständlers. Wie rezipiert mensch so einen Text, wie spricht mensch über einen Abschiedsbrief und den Selbstmord? Diese Frage, die in Manns Text in doppelter Weise aufkommt – durch den wegen Manns Selbstmord gegebenen Kontext, sowie mittels Manns eigener Rezeption der Selbstmorde von Woolf, Toller, Zweig und Masaryk – führt auf filigranes Glatteis, wenn man der Versuchung erliegt, den Rattenschwanz moralischer Implikation auszuklammern. Den Text als Text zu behandeln, ihn mit der Freiheit des „Death of the Author“-Paradigma ohne eine mit der Leser:in interagierende Funktion, etwa Ermutigung oder Aufforderung zu lesen, überführt das Schriftstück in einen amoralischen Nimbus und beraubt ihn damit zugleich seiner scheinbar zentralsten und wichtigsten Komponente: des hier besonders wichtigen, persönlichen Ausdrucks des Autors.
Einer Aufforderung zum Selbstmord aber beim Rezipieren des Textes Raum zu geben, so zeigt es sich gerade auch in Manns eigenem Umgang mit Woolf, Toller, Zweig und Masaryk, birgt die Gefahr der Verherrlichung in doppeltem Sinne: der Verherrlichung der Autor:innen und der Verherrlichung des Selbstmordes als Mittel der Agitation.
Nun fragt die Sozialist:in: „Was tun?“. Wie lässt sich eine sozialistische Perspektive auf einen Text wie den Manns werfen, ohne zynisch Held:innenverehrung zu betreiben?
Was spukt in den Abschiedsbriefen?
Eine Antwort, die der sozialistischen Rezeption eines Selbstmordes die schwierig gewordene Sprache wiedergeben könnte, findet sich in den Schriften Mark Fishers. Dieser nahm sich 2017, wie Mann fast sieben Jahrzehnte vor ihm, das Leben. Seiner sozialistischen Gesinnung trotzend wandelte Fisher auf den kulturtheoretischen Spuren Jacques Derridas. Dafür griff er dessen in „Marx‘ Gespenster“ entwickeltes Konzept der „Hauntology“ auf - ein Neologismus, der mit der phonetischen Nähe zum Wort „Ontology“ spielt – und erweiterte es um eine sozialistische Komponente. Die Hauntology wurde damit in Fishers Händen zu einem probaten Mittel, um Kulturkritik zu betreiben. Fisher notierte zum Konzept der „Hauntology“ folgendes:
Ausgehend von Hägglunds Unterscheidung zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht lassen sich somit vorläufig zwei Richtungen von Hauntology isolieren. Die erste bezieht sich auf ein aktuales Nicht-mehr, das jedoch als Virtualität bleibt: im traumatischen „Wiederholungszwang“, als fatales Muster. Die zweite Richtung bezieht sich auf das in seiner Aktualität noch nicht Geschehene, das virtuell indes immer schon wirksam ist: ein Attraktor oder eine Antizipation, die gegenwärtige Verhaltensweisen formt. Das von Marx und Engels in den ersten Zeilen des Kommunistischen Manifests beschworene „Gespenst des Kommunismus“ ist genau solch ein Spuk: eine Virtualität, die durch ihr angedrohtes Kommen bereits dazu beiträgt, den gegenwärtigen Zustand zu untergraben. 3
Die Hauntology ist die Erforschung der Differenz, nicht einfach der Text in seinem Kontext, sondern das Ausmalen des Nicht-Gesagten, das Vorzeichnen des Sich-Anbahnenden. Fisher nutzte die „Hauntology“ als Werkzeug, um in Kunstwerken Spuren der nicht eingetretenen Utopie des Sozialismus zu finden. Doch auch ein Text wie der von Klaus Mann enthält in seinem biographischen Kontext und seiner vehementen, fragwürdigen Aussage eine solche Virtualität. Und diese bietet tatsächlich eine hilfreiche Möglichkeit für die Rezeption: Nicht nur gesteht eine Auslegung des Textes im Sinne einer Hauntology den Rezipient:innen die Möglichkeit zu, die Autor:innen eines impliziten oder expliziten Abschiedsbriefes in ihren Aussagen, Meinung und der Selbstcharakterisierung ernst zu nehmen, als auch den Selbstmord, beziehungsweise die dazu getroffenen Äußerungen, zu deuten. Hauntology unterwandert die dabei auftretende Gefahr der Heroisierung des Aktes, indem auch nicht-gesagte Ursachen zu Wort gebracht werden können: die psychologische Situation der Verfasser:innen, die gesellschaftlichen Umstände.
Der sozialistische Blick auf den Selbstmord
So könnte man zweifelsohne auch aus einem sozialistischen Blickwinkel wie Klaus Mann davon sprechen, dass sich Ernst Toller und Stefan Zweig, Virginia Woolfe, Jan Masaryk und Klaus Mann selbst mittels ihrer Selbstmorde in eine widerständlerische Position befördert haben. Oder aber, dass sie Opfer einer großen, systematischen Problematik wurden - bei der Interpretation stehen alle Wege frei zur Verfügung. Und so könnte wer möchte den Text genauso gut von seinen biographischen Tauen lösen und mit aufwendigen Begründungen im Ich des Textes beispielsweise eine der eigenen Zeit entrückte Version von Klaus Manns Utopisten-Variante Alexanders des Großen sehen, den Mann am Ende seines Alexanderromans genauso als gescheiterten Utopiker charakterisiert wie das lyrische Ich seines letzten Essays. Ein literarischer Verglich dieser Art ist natürlich zufallsbestimmt und von persönlichem Gusto, von der individuellen Lesart der Rezipient:in abhängig. Trotzdem findet sich, so will es der Zufall, zum Ende von Manns Alexanderroman eine Passage, die das Problem im Umgang mit Manns Essay faszinierend zu spiegeln scheint. Mann lässt dort seinen Protagonisten als Kommentar zum eigenen Tod schweigen, eine symbolische Deutung bleibt ambigue. Das Nicht-Gesagte in Alexanders Schweigen ist jedoch ertragreicher als jedes von ihm verlorene Wort, weil die Leser:in in ihm die unzähligen Motive und Themata widerhallen hört.
Als er schwieg, sagte auch der Engel nichts mehr. „Und zuletzt habe ich noch deine Hände verwundet“, fügte Alexander nach großer Pause hinzu. Er legt seinen Mund auf die eingewickelten Hände. „Nun brauchst du nicht mehr zu antworten“, hauchte er noch. „Du hast dein Urteil ja schon vor der Beichte gesprochen. Ach, ich habe wesentlich gefehlt -“ […] Hinter ihm die Generäle wechselten ängstliche Blicke. Die Truppen lauschten noch, ob keine Worte kämen. Aber Alexanders Mund schwieg. 4
Und gerade weil Klaus Mann nicht geschwiegen hat, ist die Hauntology seines Textes ebenso faszinierend. Klaus Mann spricht über Fehler in seiner Gesellschaft, findet in keiner Position etwas Lebenswertes, Klaus Mann framed seinen Suizid. Klaus Mann schweigt über seine Leiden, Klaus Mann spricht nicht von seinen Süchten, Klaus Mann legt seine Verzweiflung anderen in den Mund. Eine sozialistische Perspektive, die eine solidarische Lehre aus Texten wie dem Manns ziehen will, muss darauf achten, nicht an der fehlerhaft-dornigen Gesellschaft hängen zu bleiben und sich darauf zu beschränken, diese in Worten sichtbar zu machen.
Im Text die einsehbare Systematik der verwalteten Welt zu erblicken und die Schuld am Selbstmord in diese hineinzuverlegen, reicht weder aus, noch hinterlässt dieses Vorgehen einen Auftrag an das sozialistische Projekt.
Es muss Bestandteil des Sozialismus sein, solidarisch das Ideal der Humanität aufrechtzuerhalten, also muss es auch Bestandteil des Sozialismus sein, eine Ermahnung dazu in einer Abwesenheit von Humanität zu lesen. Ein Vorschlag für eine sozialistische Lehre aus Klaus Mann: Ein gelebter Sozialismus darf jemensch, welche:r an psychischen Problemen leidet, nicht für die gute Sache an diesen Problemen zu Grunde gehen lassen. Selbst wenn jemensch seinen Selbstmord als Akt des Widerstandes verstanden haben möchte, sollte man sich die Freiheit zugestehen, zu hinterfragen, ob andere Gründe dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben könnten. Das im Voraus und im Nachhinein zu tun, ist eine sozialistische Aufgabe, nur so wird das Leiden von an Depressionen Erkrankten in sozialistischer Agitation ernst genommen. Und nur so wird Raum dafür geschaffen, einen Selbstmord gegen die Intentionen der Verstorbenen auch stets als Ermahnung dafür zu lesen, dass im zwischenmenschlichen Rahmen sozialistischer Aktivität gegenüber an Depressionen Erkrankten besondere Solidarität herrschen muss.
[3] Fisher, Mark (2015): Gespenster meines Lebens. Tiamat, Berlin. S. 31.
[4 ]Mann, Klaus (2018): Alexander. Roman der Utopie. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg. 2. Auflage. S. 226.